Gegen die Steinzeiternährung I: Keine Artgerechte Ernährung

Zusammenfassung: Die Steinzeiternährung ist weder optimal noch artgerecht. Beides sind Konzepte, die ein falsches Verständnis von Evolution voraussetzen, wenn man sie auf die Steinzeiternährung anwendet. Für den Wert der Steinzeiternährung sind beide Annahmen nicht nötig.

Photo Credit: Lord Jim via Compfight cc

Wir sind für die Steinzeiternährung angepasst. Sie ist die evolutionär überlegene Ernährungsform

Das ist eine übliche Behauptung der Paleogemeinde. Sie ist intuitiv so zugänglich, dass es kaum jemanden gibt, der sie direkt angreift. Das Argument dahinter sieht formalisiert folgendermaßen aus:

(1) Wir sind genetisch für die Steinzeiternährung angelegt.
(2) Die gute Ernährung ist diejenige, für die wir genetisch hin angelegt sind.

(3) Also: Die Steinzeiternährung ist die gute Ernährung.

Da hinter stecken mindestens zwei Fehlannahmen:

  1. Evolution optimiert (teleologischer Fehlschluss)
  2. Individuen sind die Grundeinheit der Evolution und nicht Arten.

Evolution optimiert nicht

Wir müssen uns einfach vor Augen halten, was der Clou hinter Evolution ist:

Diejenige Variation, welche die größte Überlebenswahrscheinlichkeit hat, setzt sich durch.

Das Überleben richtet sich hier nicht auf das Überleben des Individuums oder irgendeine Art Fähigkeit. Sie richtet sich auf Eigenschaften von Arten. Für unsere Zwecke reicht es, wenn wir davon ausgehen, dass das Überleben von Eigenschaften davon abhängt, wie gut sie ihrem Träger ermöglichen zu reproduzieren.

Eine große Ausdauerfähigkeit hilft uns bei unserem Überleben. Das ist die grundlegende These bei der Endurance Running Hypothesis. Doch warum können wir nicht so rennen wie Huskies?

Würden wir nicht besser in der Wildnis überleben können, wenn wir noch ein bisschen schneller, ausdauernder und klüger wären? Warum sind wir es dann nicht?

Die einfache Antwort lautet, dass wir hinreichend schnell, ausdauernd und klug sind und waren, um bis zu diesem Punkt zu kommen. Alles hat seine Kosten und ab einem gewissen Punkt sind die zusätzlichen Kosten größer als der zusätzliche Nutzen.

Ein einfach zugängliches Beispiel ist die Muskelmasse. Mit mehr Muskelmasse hätten wir zwar mehr Kraft, aber gleichzeitig müssten wir mehr essen und entsprechend mehr jagen. So pendelt sich die Muskelmasse als Folge ihres Vorteils und ihrer Kosten auf ein Maß ein, das uns die größte Reproduktivität ermöglicht.

Gesundheit ist zwar eine Eigenschaft, die auf höherer Ebene als Muskelmasse anzusiedeln ist, aber ihre Konstituenten unterliegen der gleichen evolutionären Kosten-Nutzen-Rechnung.

Für eine noch bessere Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen, müssten wir entsprechend auch wiederum mehr Energie in die Nahrungssuche investieren. Das ist Energie, die uns anderweitig fehlen würde. Ab einem gewissen Punkt müssten wir uns entscheiden, ob nun ein paar Milligramm Magnesium wichtiger wäre, als sich noch einmal mit dem Paarungstanz zu beschäftigen.

Aus evolutionärer Sicht ist Gesundheit nur ein Faktor unter vielen, der eine Bedeutung dadurch erhält, dass er die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion beeinflusst. Mehr Gesundheit ist gut, solange die Kosten nicht größer sind als der Nutzen von Gesundheit für die Reproduktion.

Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Jäger und Sammler, damals wie heute, optimal mit Nährstoffen versorgt sind. Sie sind hinreichend für ihre Reproduktion versorgt.1

Eine Steinzeiternährung als die evolutionär überlegene Ernährungsform zu bezeichnen, ist grundlegend falsch. Sie ist erwiesenermaßen die evolutionär unterlegene Ernährungsform, obwohl sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die gesündere Ernährung ist. Erwiesenermaßen ist die Getreidekost die evolutionär überlegene Ernährungsweise.

Die Steinzeiternährung ist sicherlich nicht die optimale Ernährung. Durch die Steinzeiternährung waren wir zwar in der Lage uns zu schnell zu reproduzieren. Ein Effekt, der durch den Ackerbau bei Weitem übertroffen wird. Aus evolutionärer Hinsicht ist der Ackerbau der Steinzeiternährung um ein Vielfaches überlegen. Gesundheit ist nur ein Faktor, der für die Reproduktivität, relevant ist. Bei schlechterer Gesundheit mehr Nachkommen zu erzeugen bedeutet evolutionären Erfolg. Wir schwabbligen McDonalds-Gänger sind evolutionär eindeutig erfolgreicher als die beeindruckenden Jäger der afrikanischen Wüste.

Wenn wir also versuchen, diese Ernährungsform zu imitieren, sind wir alleine von diesem Punkt aus nicht gerechtfertigt anzunehmen, dass wir optimal versorgt sind, obwohl es nichtsdestotrotz so sein könnte.

Art vs Individuum

Oft fallen Begriffe wie artgerechte Ernährung beim Versuch vom Begriff Steinzeiternährung wegzukommen. Schließlich wird man hier immer mit dem Klischee des Mammut jagenden Höhlenmenschen konfrontiert.

[pullquote position="right" hidden="true"]Anstelle von gesunden Arterien haben wir heute Bypässe.[/pullquote]

Die Steinzeiternährung in unserem heutigen Sinne ist ihrem Wesen nach keine artgerechte, sondern eine individuengerechte Ernährung. Das folgt logischerweise daraus, dass es durch die Steinzeiternährung dem Einzelnen besser gehen soll, obwohl sich die moderne getreidereiche Ernährung als evolutionäres Erfolgsmodell (bis dato) durchgesetzt hat.

Die artgerechte Ernährung ist die getreidebasierte Ernährung, denn diese ist, was der Tierart Mensch einen so dominanten Platz in der Welt verschafft hat.

Nun mag man einwenden, dass wir doch offensichtlich als Art scheitern. Die rasende Epidemie der Zivilisationskrankheiten zeigt uns, wie hoch die Kosten der modernen Ernährung sind. In Amerika sind mehr als 2/3 der Menschen übergewichtig.

Falsch. Im Sinne der Evolution ist das völlig unerheblich, so lange die Reproduktivität nicht eingeschränkt ist. Unabhängig vom beständigen Rückgang unserer Fruchtbarkeit, unserer schlechten Gesundheit und allen anderen Zeichen von körperlichem Verfall, kriegen wir es doch immer wieder hin Kinder zu machen.

Während wir früher Herausforderungen mit unserer körperlichen Gesundheit begegnet sind, haben wir heute Kulturtechniken entwickelt. Wir haben Krankenhäuser und -wagen, Polizisten, Medikamente und viele Errungenschaften mehr, welche die Toleranz für eine schlechte Gesundheit erhöhen. Anstelle von gesunden Arterien haben wir heute Bypässe.

Den Begriff artgerechte Ernährung habe ich daher aus Improved Eating herausgenommen. Er transportiert eine falsche Vorstellung der Steinzeiternährung.

Doch keine Steinzeiternährung?

Ich habe oben nicht gegen die Steinzeiternährung argumentiert! Vielmehr habe ich mich gegen eine bestimmte Sichtweise auf die Steinzeiternährung gewendet.

Begriffe wie artgerechte Ernährung setzen bereits ein inkorrektes Verständnis von Evolution voraus, wenn man davon ausgeht, dass eine artgerechte Ernährung immer auch eine individuengerechte Ernährung ist.

Manche behaupten auch, dass wir Menschen aus der natürlichen Selektion ausgestiegen sind. Das ist eine Behauptung, welche ich für extrem problematisch halte. Diesen Unterschied zwischen Natur und Kultur herzustellen ist extrem anspruchsvoll und geht mit jeder Menge Schwächen einher, wenn man dies als eine verallgemeinerbare Aussage über die Realität gestalten will. Wenn jemand diesen Sprung wagen will, kann er mich gerne per Email mit einer Idee anschreiben.

Das heißt, dass Artgerechtigkeit und natürliche Selektion als Erklärungsmodelle schon einmal herausfallen, solange es nicht um die eigene, emotionale Kategorisierung der Welt geht.

Wie kann man diesen beiden Schwächen begegnen?

In meinem Beitrag Steinzeiternährung – Der Anfang vom Untergang bin ich auf ein klein wenig auf die Problematik eingegangen. In diesem Beitrag sind noch einige Ungenauigkeiten in Bezug die Differenz von Natur und Kultur.2

  1. Maßnahme: Die Steinzeiternährung ist keine optimale Ernährung. Sie ist nicht unsere Bestimmung, von der wir durch Ronald McDonald weggelockt wurden. Vielmehr ist es eine Ernährungsweise, die sich über viele Jahrmillionen bewährt hat. Wenn man es genau nimmt, sind einige dieser Eigenschaften Milliarden Jahre alt. Hunger ist beispielsweise ein solches ein Konzept. Es hat sich durchgängig über Milliarden Jahre gehalten. Es ist eine Gewohnheit unserer und anderer Arten, deren Wirksamkeit und Effekt regelmäßig evaluiert werden sollte. Paleo 2.0 ist ein schöner Ausdruck dafür.
  2. Maßnahme: Die Steinzeiternährung ist keine artgerechte Ernährung. Es ist eine Ernährungsform, die für uns als Individuum ein Beginn sein sollte, ein Gefühl für gute Entscheidungen für Ernährung und andere Fragen des Lebenswandels zu entwickeln.

Die Steinzeiternährung ist ein Prinzip, dass es einem ermöglicht, gute Fragen zu stellen, so dass wir eine theoretische Forschung und die Forschung an der eigenen Ernährung vorantreiben können.

Wenn das Prinzip der Steinzeiternährung als das ganzheitliche Prinzip verstanden ist, als das es angelegt ist, kann man verschiedenste Bereiche ins Verhältnis bringen, die vorher voneinander getrennt waren. Das Prinzip reicht über die Ernährung hinaus und verbindet Bewegung, Ruhe (Schlaf und Meditation), zeitliche Verteilung der Nahrungsaufnahme - nahezu jeden Bereich des Lebenswandels. Von hier aus hat man die Chance, einen Schritt zurückzugehen und ein größeres Ganzes zu sehen, anstatt sich in den Teilen zu verlieren.

Doch die Steinzeiternährung ist (wahrscheinlich) nicht optimal und auch nicht artgerecht.

Fragen

  • Was bedeutet es für dich, wenn die Steinzeiternährung nicht optimal ist?
  • Welche weiteren Schwächen siehst du in der Steinzeiternährung?

  1. Das sind wir übrigens auch.  

  2. In der Zusammenfassung habe ich geschrieben, die Steinzeiternährung ein Übergang zwischen Natur und Kultur sei. Damit habe ich keinesfalls gemeint, dass wir dann aus der Natur aus- und in die Kultur einsteigen. Allerdings ist dies ein Blog über Gesundheit und Fitness, kein Anthropologie- oder gar Philosophieblog.