Bewegung nach ME-Improved - Ein erster Versuch
Für das Buch Lebenswandel: Bewegung und Mobilität werde ich mich der Aufgabe stellen müssen, mindestens ein Curriculum eines allgemeinen Trainings vorzuschlagen. Das heißt, dass dieser Abschnitt zwei Ansprüchen gerecht werden muss:
- Er muss in sich und für sich geschlossen Sinn machen. Liest man nur dieses Kapitel, sollte man kein anderes Kapitel lesen müssen, um zu verstehen, weshalb beim allgemeinen Bewegungstraining eben dieses Curriculum Sinn macht.
- Es muss im Zusammenhang des restlichen Buchs Sinn machen. Man muss sich begründet entscheiden können, ob man nun diesem Bewegungsparadigma folgt oder nicht. Außerdem sollst du als Leser in der Lage sein Zwischenbereiche der Kreise auszumachen. Vielleicht willst du Crossfit und Bodybuilding miteinander kombinieren? Oder Functional Training für eine Sportart machen? Oder Strongman und “Movement”?
Doch vorher werden wir uns die Frage stellen müssen, nach welchen Kategorien wir die Bewegungen sortieren. Ich werde die einzelnen vorläufigen Kategorien nach ihrem Alter einordnen. Das nachfolgende ist ein Ausschnitt aus dem Band der Lebenswandelsreihe Bewegung und Mobilität.
Tierische Bewegungsmuster
Evolution ist notorisch konservativ. Jeder Schritt in der Evolution kann nur in eine Richtung gegangen werden, die auf einem bereits gegangenen Schritt aufbaut. Die Evolution kann nicht einfach auf 0 setzen, sondern kann nur mit einer ununterbrochenen Kette von Altem und Neuem funktionieren. Sie hat keine Wahl als konservativ zu sein.
Daher finden wir viele Überreste oder Zweckentfremdungen in unserem Körper wieder: Unsere Wirbelsäule ist unserer Zeit als aquatische Lebewesen geschuldet. Unsere Hände sind umfunktionierte Pfoten, während unsere Füße rückgebildete Hände sind. Arbeiten wir mit tierischen Bewegungsmustern, können wir an unseren Bewegungsfundament arbeiten. Der Begriff Fundament passt hier in zwei Hinsichten:
- Wir können für Kinder ein Bewegungsprogramm gestalten, dass ihnen ein Fundament für den Rest ihres Lebens sein kann. Bewegungsprogramm heißt nicht Training, sondern Spiele und Lernaufgaben. Kinder lieben Aufmerksamkeit, Lernen und Bewegung. Wenn sie keine Lust auf spielerisch gestaltete Lernaufgaben mit Erwachsenen haben, läuft etwas sehr falsch. (Man denke an Sportunterricht).
- Wir können unsere eigenen Bewegungsfundamente erweitern. Es ist überraschend, welche Lücken sich auftun, wenn man vor einfache Bewegungsaufgaben dieser Kategorie gestellt ist. Überraschend ist auch, welche Fortschritte man macht, wenn man diese Lücken dann schließt.
Auf ältester Ebene können wir alle vierfüßigen Fortbewegungsarten verstehen. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich mit Hilfe der Füße und Hände fortzubewegen. Daher können wir viele verschiedene “Übungen” in diesem Bereich finden. Viele von ihnen sind unter dem Begriff “Animal Moves” beworben. Ich lehne diesen englischen Begriff ab. Es steckt mir zu viel esoterische Romantisierung darin und bleibe bei der einfachen und herrlich sperrigen und oben fett markierten Bezeichnung.
Diese Bewegungen liefern in Form eines Trainingsreizes die folgenden besonderen Vorteile: Sie trainieren die Stabilität und Kraft im Schulterblatt auf vielfältige Weise. Die Stabilisierung des Schulterblatts ist das Fundament für die Kraft und Stabilität bis in die Hände. Als ich als Fitnesstrainer in einem großen kommerziellen Fitnessstudio habe eine Weile lang bei den Trainierenden die Stabilität des Schulterblatts untersucht, um mir einen Überblick über den Stand der Dinge zu verschaffen. Schrecklich war das.
Außerdem wird der Rumpf auf eine vielfältige Weise trainiert. Die Belastung bei vierfüßigen Fortbewegungsformen ist nicht ganz statisch (wie etwa beim Unterarmstütz) und auch nicht ganz dynamisch wie beim Crunch. Wir haben die ganze Bandbreite von Bewegungen. Die Aufgabe des Rumpfs ist meistens die Stabilisierung der Wirbelsäule, aber manchmal müssen wir uns unter leichter Last in eine andere Position bringen. Vierfüßige Bewegung liefert ein vielfältiges Rumpftraining Freihaus. Das ist besonders nützlich für Menschen mit viel Sitzfleisch im Alltag.
Bei den meisten vierfüßigen Bewegungsformen haben keine ausgeprägte exzentrische Belastungsphase. Das heißt, wir verlängern nur selten einen Muskel unter Last und über die volle Bewegungsamplitude. Daher können wir mit diesen Bewegungsformen viel Bewegungs- und Trainingsvolumen sammeln, ohne unsere Regenerationskapazität allzu stark zu belasten. In Kombination mit den vielfältigen Rumpfbelastungen sind diese Bewegungen besonders für Sportler interessant, die nach einem Kraftausdauertraining suchen. 45 Minuten mit vierfüßigen Bewegungsformen machen zwar für den Moment fertig, aber ohne Mikrotraumata wie bei etwa einem Zirkeltraining aus Liegestütz, Kniebeugen und Klimmzügen ist man sehr schnell wieder fit für die nächste Trainingseinheit (oder den Alltag).
Theoretisch ist Schwimmen eine noch ältere Bewegungsform als der vierfüßige Gang. Aber als Landtiere sind wir Menschen besser damit beraten, mehr Zeit an Land zu verbringen als an Wasser. Die üblichen Schwimmtechniken wie Kraul, Brust und Rückenschwimmen (welcher klar denkende Mensch tut sich schon Delphin an?) liefern allerdings kein besonderes Bewegungsmuster, dass uns groß bei anderen Bewegungen hilft. Noch schlimmer: Schwimmen macht langsam. Woran liegt das? Es könnte daran liegen, dass der Widerstand hydrodynamisch ist. Dadurch ist eine völlig andere muskuläre Koordinierung im Wasser gefordert als an Land. Wenn diese zur Gewohnheit wird, überträgt sich die Langsamkeit des Wassers auf das Land. Allerdings ist dies nur der Versuch einer plausiblen Erklärung, basiert aber nicht auf dem guten Nachweis des Kausalmechanismus. Die Beobachtung bleibt allerdings. Auch Alex Viada kommt zu dieser Beobachtung bei seinem Ansatz Triathlon mit Kraftdreikampf zu verbinden.
Vielversprechender ist das übliches Schwimmen ist das Streckentauchen mit seinen fischartigen Bewegungen für die Wirbelsäule. Als Landtiere haben wir im Wasser nur etwas verloren, wenn wir nach Beute tauchen. Doch in der Moderne bietet das Schwimmen eine Tür zu einer seltsamen Welt, deren Wunder sich nicht nur auf den Bereich der Bewegung beschränken. Es ist seltsam, wenn man unter Wasser ist. Es ist ruhig und fremd, man kann alleine sein, die monotone Bewegung des Schwimmens und die erzwungene Gleichmäßigkeit des Atems -- das ist eine besondere Form der geistigen Übung. Die Romantik von Leistungsschwimmern, wenn sie von den einsamen, meditativen Frühtrainings berichten, hat ihre totale Berechtigung.
Wenn man kein Leistungsschwimmer ist, trotzdem aber Zugang zu dieser Welt haben will, kann man sich mit der Technik Total Immersion auseinandersetzen. Diese Art des Schwimmens maximiert die Eigenschaften dieser wunderlichen Wasserwelt.
Klettern ist eine Form der Bewegung, die dem vierfüßigen Gang ähnlich ist. Es gibt gute Gründe, das Klettern der Bewegungsgruppe der vierfüßigen Fortbewegung zuzuordnen. Ich trenne die beiden aus funktionalen und praktischen Gründen.
Funktional unterscheidet sich das Klettern vom vierfüßigen Fortbewegungen so wie sich Drücken und Ziehen unterscheidet. Klettern ist funktional eine ziehende Fortbewegungsart, während die vierfüßige Fortbewegung Drücken, oder besser: Stützen, bedeutet. Praktisch unterscheidet sich beides, dass man in anderen Umgebungen klettert als man sich vierfüßig fortbewegt. Das spiegelt sich in der Raumachse nieder: Vierfüßige Fortbewegung ist horizontal, Klettern vertikal. Komisch - aber logisch.
Die besonderen Eigenschaften sind ansonsten aber ähnlich.
Das Springen ist die erste animalische Kraftleistung. Was damit gemeint ist, ist klar.
Raufen und Ringen gehört eindeutig in die animalische Kategorie. Es ist die eigentlich Form des tierischen Kampfs. Tiere beißen natürlich sehr viel häufiger als Menschen, weil die Idioten keine Hände haben. Beißen ist für Tiere eine Möglichkeit zu greifen und zu fixieren. Wer schon mal mit einem Hund gespielt hat, weiß das aus erster Hand.
Wir Menschen haben natürlich mehr Werkzeuge im Arsenal, vielleicht die unterschiedlichsten Werkzeuge von allen Lebewesen. Bei dieser Form der Bewegung geht es darum, sich in Beziehung zu einem anderen Menschen oder einem Tier zu setzen. Diese Beziehung hängt von den expliziten aber auch impliziten Spielregeln ab.
Menschliche Bewegungsmuster
Allen voran sind Gehen und Laufen einzigartige Bewegungen für den Menschen. Unsere Form des zweibeinigen Gangs ist bisher einzigartig im Tierreich und ist damit etwas rein Menschliches. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen unserem tierischen Anteil und dem menschlichen Anteil unseres Bewegungsrepertoires. Alle nutzen tierische Bewegungsmuster, einiges machen nur wir Menschen.
Gehen und Laufen gewinnt für uns moderne Menschen einen besonderen Nutzen, wenn wir barfuß laufen oder mit Minimalschuhen. Es kann der erste Schritt in Richtung des Normalzustands unserer Füße sein. Darüber hinaus ist Gehen und Laufen der Modus, in dem wir uns in der Natur befinden. Bizarrer könnte es nicht sein, hier zu schreiben, dass sehr viele, vielleicht sogar die meisten Menschen der Moderne, so schlecht Gehen und Laufen können, dass sie körperlich daran gehindert sind, sich frei in der Natur zu bewegen. Aber es ist so und bizarr ist die Zeit, in der wir leben.
Die zweite ganze besondere menschliche Bewegung ist das Werfen. Nichts und niemand kann so gut werfen wie wir Menschen, insbesondere unsere Männchen. Du wirfst wie ein Mädchen sollte eher heißen: Du hast eine Körperstruktur wie ein Mädchen, dass dich auf eine bestimmte Weise werfen lässt.
Beim Werfen müssen wir unterscheiden, ob wir wirklich werfen oder stoßen. Ein Pass oder auch Korbwurf beim Basketball ist vielmehr eine Stoßbewegung und einem Schlag viel Ähnlicher als einem echten Wurf. Ein Wurf hat eine ganz bestimmte Charakteristik, was mit unserer Schulterstruktur zu tun hat.
Auf den ersten Blick scheint Tanzen keine eigentümlich menschliche Bewegung zu sein. Schließlich vollführen auch Tiere beispielsweise Paarungstänze. Doch Menschen haben eine Art des Tanzens, die sich von der Art der anderen Tiere unterscheidet. Was ist dieses Tanzen, wenn wir Menschen es machen? Das ist anscheinend eine Frage, die sich die Tanzgemeinschaft dauernd stellt.
Aber weil ich Mr. Superklug bin, habe ich natürlich die Antwort. Wir können uns nicht grundlos bewegen.Tanzen ist immer eine Art der körperlichen Kommunikation. Absichtsvoll oder zufällig. (A) Intentional ist Tanz im Falle von Gesellschaftstanz, Ballett oder Choreografien. Das sind Tanzformen, die einem Gebet sehr ähnlich sind. Das Vaterunser ist keine freie Form von Kommunikation mit Gott und man kann es auch einfach herunterbeten. Aber es ist eine gemeinte Kommunikation mit Gott. Eine Choreographie ist das körperliche Pendant zu einem Text. Wenn wir das feste Element lösen und zu freieren Formen des Tanzens übergehen, bleibt Tanzen immer noch kommunikativ. Wir gehen beispielsweise auf die Tanzfläche im Club, stockbesoffen, bekifft oder sonstwas, und kommunizieren Ich bin sexy! oder Hey, ich scheiß auf dich!. Keiner geht in den Club, um nur zu tanzen. Wenn es nur um das Tanzen ginge, würde man es alleine machen. Nein. Man geht in den Club, weil man etwas machen will, wofür man andere Menschen braucht: Kommunikation. Und was ist, wenn man einfach nur alleine abtanzt, weil man euphorisch ist? Oder einfach nur improvisiert? Naja, man macht nicht einfach irgendwas. Und als moderne Menschen haben wir Probleme Kommunikation zu verstehen, wenn sie nicht mittels der klaren, linkshemisphärischen Begrifflichkeit einhergeht. Was kommunizieren wir, wenn wir uns wortlos in die Augen sehen. Keine Gestik, keine Mimik. Mach das Experiment. Such dir ein beliebiges Opfer und halt mit diesem Menschen für fünf Minuten wortlos Blickkontakt. Wenn du bei klarem Verstand bist, wirst du feststellen: Ihr kommuniziert, ob ihn nun wollt oder nicht. Na gut. Was ist ohne Blickkontakt? Setz dich einfach mal auf die Couch mit irgendwem. Was macht es, dass du nicht alleine bist? Warum macht es einen Unterschied, ob jemand da ist oder nicht? Selbst, wenn der andere auf dem Sofa neben dir schläft oder auch im anderen Zimmer schläft. Selbst wenn diese Person auf der anderen Seite der Erde ist, kommunizierst du mit ihr. Nur nicht so frequent und intensiv wie beim Gespräch, beim Partnertanz oder beim Sex.
Woher kommt das? Woher diese andauernde Kommunikation? Der Grund dafür ist, dass es neben der analytischen, mechanischen, bezeichnenden Seite der Sprache eine ganzheitliche, lebendige und Nähe suchende Seite gibt. Es ist eine Frage des Gefühls. Auch ein Gefühl kann ich analysieren, in ein mechanistisch-kausales Sprachmodell verpacken und mit dem Finger auf das Gefühl zeigen und sagen “Das ist Wut!”.
Es ist weniger der Inhalt auf den es ankommt, sondern auf den Modus. Dieser Sprachmodus wird von der rechten Gehirnhälfte vermittelt und hat mehr mit einem bloßen Dasein in der Welt zu tun, als die Welt zu abstrahieren. Selbst wenn wir mit einem Menschen erst über philosophisches Thema reden, dann über die Art zu Reden reden und dann wiederum über die Möglichkeit auf eine Metaebene zu wechseln, gibt es da noch etwas, dass stattfindet. Es ist die Zwischenmenschliche Ebene, die wir nur unzureichend benennen können. Das liegt daran, dass sie zu benennen eben nur eine Seite ihres Daseins in der Welt erfassen kann. Die andere Seite kann man nur erfahren. Aber was hat das nun mit dem Tanzen zu tun? Wir machen einen letzten Versuch die These zu entkräften, dass Tanzen Kommunikation (oder vielleicht besser: Sprache) ist: Was ist denn, wenn ich in den Wald gehe. Niemand ist da. Ich gehe einfach nur spazieren und mich überkommt es. Ich bewege mich in einem Nichtrhythmus, bleibe im Moment und tanze einfach nur so. Wo ist denn da bitte die Kommunikation? Darauf können wir nur erwidern: Die Kommunikation kannst du genau da finden, wo du dir alleine in deiner Bude den Fuß an einer Ecke anstößt und “FUCK!” brüllst. Woher kommt das? Was ist mit diesem Wort, diesem Ausruf? Es gibt keinen Adressaten und auch keine Intention eines Adressaten. Das ändert aber nichts daran, dass “FUCK!” ein Wort ist und der Akt des Sprechens selbst Kommunikation ist. Eine tänzerische Bewegung ist Kommunikation. Eine tänzerische Bewegung ist auf die gleiche Weise Kommunikation wie Sprechen und Singen Kommunikation ist. Vielleicht ist es nicht deine Intention, mit Sprache, Gesang oder Tanz etwas zu kommunizieren. Aber das kümmert weder die Sprache noch den Gesang oder den Tanz. Und die Welt schon gar nicht.
Einfache Antwort: Was ist Tanz? Tanz ist Sprache und Kommunikation. Tanzen ist, zu sprechen und kommunizieren.
Das Besondere, was wir Menschen machen ist den Tanz mit den Eigenschaften unserer menschlichen Sprache anzureichern. Komisch, aber logisch: Tiere kommunizieren auch, teilweise ganz schön ausgeklügelt. Aber nur Menschen sprechen.
Und schon können wir all den Problemen beim Tanzen ein Label geben und daran arbeiten. Fehlen dir die Worte, weil du schüchtern bist? Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du dich auf der Tanzfläche nicht voll zum Ausdruck bringst. Weißt du nicht, was du machen sollst, wenn man dir sagt “Tanz mal voll ab!”? Vielleicht fehlen dir einfach die Moves genauso, wie einem auch die Worte fehlen, weil man sie schlicht nicht kennt. Was ist, wenn du ungelenk bist und dir die Bewegungen selbst schwerfallen? Dann fehlt dir vielleicht die Grammatik des Tanzen, so wie bei einem Text, der ungelenk und hölzern wirkt.
Eine weitere, sehr menschliche Bewegungsform ist das Schießen. Schleudern, Bögen und Zwillen sind die steinzeitmäßigeren Mittel des Schießens. Aber auch Gewehre, Panzerfäuste und Panzergeschütze gehören in diese Kategorie. Während wir uns dabei de facto nicht wirklich bewegen, als Piloten einer militärischen Drohne wahrscheinlich nicht einmal ein paar Millimeter, bewegt sich das neue Wir außerordentlich. Als Menschen haben wir die besondere Möglichkeit spontan und dauerhaft Gegenstände zum Teil unseres Körpers zu machen. Wir können beispielsweise mit einem Schraubendreher nach einer Schraube fühlen. Das ist ganz wörtlich gemeint. Unser Gehirn behandelt den Schraubendreher, als sei er Teil unseres Körpers. Nicht anders ist es, wenn wir im Auto sitzen. Es ist gewissermaßen die Methode unseres Gehirns unseren Körper neu zu konstruieren. Etwas braucht nicht lebendig zu sein, um Teil unseres Körpers zu sein. Nimm beispielsweise unsere Haare. Sie sind totes Gewebe, doch wenn wir uns unsere langen Haare abschneiden, haben wir einen beträchtlichen Teil unseres Körpers verloren. Wir sind ganz unmittelbar ein anderer Menschen geworden. Die Änderung mag nicht so groß sein, als hätten wir uns den Arm amputiert. Doch sie ist deutlich größer, als würden wir bloß den Pullover wechseln, obwohl beides eigentlich nur die modische Verwendung von totem Material sein sollte, wenn wir das moderne (falsche) materialistische Modell von Wirklichkeit zu Grunde legen. So ist der Bogen, das Gewehr oder auch der Panzer Teil unseres Körpers, wenn wir benutzen. Das macht das Schießen zu einer ganz besonderen menschlichen Bewegung. Sie ist gewissermaßen als magische Kraft in einen Gegenstand hinhingezaubert.
Und das bringt uns zum nächsten Aspekt der menschlichen Bewegung: Dem Herstellen. Dank an Joseph Bartz, der mich daran erinnert hat, dass dies wirklich unter den Bereich Bewegung gehört. Mit diesen Wundergeräten, die wir unsere Hände nennen, können wir wahrhaftig zaubern. Nimm einmal die Perspektive eines dümmeren Lebewesens ein, einem Affen oder einem Hund. Was würden sie sagen, könnten sie sprechen, was wir mit unseren Händen machen, wenn wir eine Schleife machen, einen Stuhl bauen oder einen Speer herstellen? In irgendeiner Form würden sie, wenn sie nicht die dümmsten ihrer Art sind, uns göttliche Kräfte unterstellen, unsere Hände sind die Werkzeuge dieser göttlichen Kraft, so wie auch Einhörner ihre Magie mittels ihres Horns entfesseln.
Vielleicht können wir diese magische Eigenschaft des Herstellens besser zu würdigen wissen, wenn wir als Nichtinformatiker einen Informatiker fragen, was er eigentlich beim Programmieren macht: Er benutzt eine seltsame Zaubersprache, um eine Art Geistergegenstand herzustellen, den wir aus einer anderen Existenzebene (Internet zum Beispiel) auf unser Smartphone herunterladen können. Und obwohl wir es heruntergeladen haben, gibt es diesen Geistergegenstand trotzdem noch an einem Ort namens “Appstore”. Wenn das keine Magie ist, dann weiß ich auch nicht.
Das Problem ist, dass wir auf materialistische Weise wissen, was da passiert. Deswegen ist es einfach nur cool, wenn Opa uns einen Flitzebogen baut oder wir bewundern den Intellekt eines guten Informatikers. Aber der magische Flair ist verloren. Warum ist das ein Problem? Weil wirkliche Magie im Herstellen als Bewegung steckt. Es ist mehr als bloße Feinmotorik und Folgsamkeit gegenüber der mitgelieferten Anleitung eines IKEA-Möbelstücks. Im Herstellen können wir einen Teil unserer menschlichen Natur wiederfinden. Wir kultivieren ein Stück Natur und machen es Teil unserer eigenen kleinen privaten Welt. Lebendige Bäume, die Teil eines vernetzten Ökosystems sind, starben, als ich ihr Fleisch im Baumarkt gekauft habe, um mir einen Tisch für meinen Balkon zu bauen. Und irgendwann werde ich vielleicht das Material wiederverwenden oder es wird wieder zur Erde und einem anderen Baum die Nahrung für sein Fleisch.
Kulturell verlieren wir mehr und mehr die Fähigkeit zum Herstellen. Wir haben sie ausgesondert in Form der kapitalistisch geforderten Arbeitsteilung. Gegenstände tauchen auf einmal auf und wir fallen zurück auf das Niveau kleiner Kinder, die für alles und jedes Problem zu Mama oder Papa rennen müssen. Nur rennen wir als Erwachsene zu einem Fahrradmechaniker, wenn wir nicht wissen, wie man einen Reifen wechselt. Oder wir kaufen einfach irgendeinen Schreibtisch, weil wir nicht einmal auf die Idee kommen, dass wir mit einer Stunde Zeit und wenigen Handgriffen einen Tisch herstellen können, der exakt unseren Wünschen entspricht. Wir verlieren die menschliche Eigenschaft die Welt mitzugestalten. Vielmehr gibt es nun Maschinenparks, die uns die Aufgabe abnehmen und damit entmenschlichen und schwächer machen.
Arbeit
Arbeit ist in dem Sinne keine rein menschliche Tätigkeit, sondern der Vorbote der modernen Maschinisierung. Arbeit ist Maloche. Es sind die ewig wiederholenden Tätigkeiten. Wir sind Menschmaschinen, die an Fließbändern, in Sandgruben, auf dem Bauernhof und in der Werkstatt arbeiten. Wir heben, laden um, schrauben, tragen.
Köstliche Künstlichkeit
Zum menschlichen Bewegungsrepertoire gehören seit ganz neuer Zeit außerordentlich künstliche Bewegungen. Wir bedienen beispielsweise Tastaturen. Aber auch die Cuban Rotation gehört zu dieser Klasse extrem künstlicher Bewegungen. Bankdrücken, die Beinpresse, die Kniebeuge mit Langhantel, der Planche Liegestütz. Wir investieren erstaunlich viel Energie in diese künstlichen Bewegungsmuster, manchmal machen sie sogar den größten Teil unserer Bewegungspraktik aus.
In diese Kategorie fallen alle Bewegungen, die bestimmte Aspekte unserer grundlegenden Bewegungskapazität isolieren und stark raffinieren. Die Langhantelkniebeuge ist so ein Beispiel. Mit individuellen Abweichungen gibt es eine Idealtechnik, die wir auf einem idealen Untergrund mit (hoffentlich) idealen Schuhen mit der idealen Trainingsmethode absolvieren. Die Hantel ist perfekt ausbalanciert und die Hantelscheiben genormt und geprüft. Danach führen wir die ideale Menge an Proteinen zu, um die Proteinsynthese zu optimieren. Raffinierter wäre nur noch die Beinpresse. Ich wähle als Beispiel aber die Langhantelkniebeuge, weil sie in den meisten Kreisen einen besonderen Status vor der Beinpresse hat. Den hat sie sich vor dem Hintergrund ihrer Wirksamkeit verdient. Aber die Schwellung der stolzen Brust einiger Menschen, die sie sich einfangen, wenn sie davon erzählen, das Kniebeuge als komplexe Übung ja viel funktionaler ist als die Beinpresse, ist meist etwas zu groß. Da dürfen wir uns nichts vormachen: Die Langhantelkniebeuge sowie Hanteltraining allgemein ist eine extrem künstliche Angelegenheit.
Diese Künstlichkeit äußert sich in entsprechend Vor- und Nachteilen. Diese verlaufen parallel zur Dimension Isolation und Integration. Turnerische Übungen, Hanteltraining, aber auch verschiedene Dehnübungen sind extrem isolierende Bewegungsformen. Wir isolieren dabei nicht nur einen Muskel oder eine Bewegungsfunktion (beispielsweise Drücken), sondern entfernen auch die allermeisten Umwelteinflüsse, Instabilitäten, unbekannte Variablen, Asymmetrien und noch viele mehr.
Für eine konkrete Anwendung, wenn sie nicht ebenfalls in einem so künstlich-isolierenden Kontext stattfindet (z.B. ein Powerlifting-Wettkampf), sind diese künstlichen Bewegungsformen vielmehr als so etwas wie ein Anpassungspotential zu verstehen, als eine konkrete Anpassung. Wenn ich beispielsweise meine schwere Kniebeuge um 50kg gesteigert habe, merke ich zunächst einen unmittelbaren Übertrag auf beispielsweise mein Parkour. Ich kann besser springen und ermüde nicht so schnell. Das liegt aber gewöhnlich daran, dass ich neben dem Kniebeugentraining weiterhin Parkour mache. Weil die Anpassungen so langsam geschehen, gewöhne ich mich schleichend an meine neuen Fertigkeiten. Man würde dies erst merken, wenn man nur Kniebeuge mache und währenddessen mit dem Parkour pausiert.
Beim Boxen habe ich das gemerkt, als ich eine Weile lang kein Boxen betrieben habe, aber mit Krafttraining angefangen habe. Es fühlte sich an, als hätte ich eine höhere Schlagkraft, auf die ich keinen Zugriff hatte. Diesen musste ich erst freischalten.
Doch dieser Nachteil künstlicher Bewegungsformen ist, dass wir eben auch sehr präzise arbeiten können. Dadurch können wir in einem kleineren Bereich größere Anpassungen erzeugen. Wenn wir beispielsweise unsere Außenrotatoren isoliert trainieren, können wir diese wesentlich besser stärken, als würden wir nur bouldern. Krafttraining ist dann am produktivsten, wenn es den richtigen Grad der Isolation hat. Die klassischen Grundübungen mit der Hantel oder die Grundübungen für den Oberkörper mit dem Eigengewicht kommen dem schon sehr Nahe.
Die Frage ist nun, wofür wir uns diese Gedanken gemacht haben.
Vollständigkeit in der Praxis
Wir können nun prüfen, ob wir in Form des allgemeinen Bewegungstrainings eine gewisse Vollständigkeit erreicht haben. Was ist das Resultat dieser Vollständigkeit? Nun, das ist nicht so leicht sagen. Wenn wir beispielsweise unser Krafttraining im Fitnessstudio vollständig gestalten, entwickeln wir einen symmetrischen Körper und vermeiden muskuläre Dysbalancen. Vollständigkeit führt also zu einem ästhetischen und gesundheitlichen Ideal. Was ist aber das Ideal des allgemeinen Bewegungstrainings? Ich kann diese Frage an dieser Stelle nur offen lassen. Zumindest, wenn es darum geht, sie für den Bereich der Bewegung selbst zu beantworten. Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb man sich nicht auch im allgemeinen Bewegungstraining spezialisieren sollte, beispielsweise vor allem Tanzen macht und die anderen Aspekte unterordnet. Das muss man sich selbst aussuchen oder dem Vorschlag eines Menschen folgen, der dazu ein Urteil gefällt hat.
Doch wenn Bewegung nicht als Ganzheit betrachten, sondern als Teil des Lebens verstehen, können wir schon einige Aussagen über eine Ideale Praktik des allgemeinen Bewegungstrainings fällen:
Unsere Bewegungspraktik sollte ganz praktisch sein. Sie sollte unseren Körper gesund und fit halten, sodass er nicht der limitierende Faktor in der Verfolgung unserer Lebensziele sein. Wenn man regelmäßig wandern will, ist es unsinnig, seine Zeit ins Krafttraining ohne Mobilitätstraining zu investieren. Hat man Kinder sollte die Bewegungspraktik nicht dazu führen, dass wir ständig verletzt sind oder vor lauter Erschöpfung mit nicht mit unseren Kindern mithalten zu können.
Das allgemeine Bewegungstraining sollte als Vehikel der menschlichen Selbstentwicklung dienen. Das gilt mehr als nur bei spezialisierten Bewegungspraktiken wie Bodybuilding oder Crossfit. Beide Letztgenannten können natürlich auch dazu beitragen. Bei beiden lernt man Disziplin und entfaltet sich körperlich. Doch es steckt ein besonderer Wert darin, sich mit den animalischen Aspekten unserer Bewegungsfähigkeit zu beschäftigen. Es weitet unsere Perspektive und erhält Aspekte, die wir durch das moderne Leben gerade nicht entfalten. Wir erhalten uns gewissermaßen eine uralte Ebene des Menschseins. Joseph Bartz hat mal darüber gesprochen, dass es ein sehr seltsames Gefühl ist, wenn man das erste Mal mit den eigenen Händen Feuer macht. Das geht in diese Richtung. Es hat etwas Magisches, kaum zu erklärendes, wenn wir verschlossene Türen zur Vergangenheit wieder öffnen.
Das heißt, dass es sich aus Selbstentwickungsgründen lohnt, in jeden Bereich der menschlichen Bewegungsformen hineinzuschnuppern und sich eine generelle Kapazität für jede zu erhalten. Vollständigkeit lohnt sich.
Mein Bewegungscurriculum vs. John
In welchem Verhältnis steht mein Bewegungscurriculum zu anderen Curricula, die einen ähnlichen Anspruch haben? Sehen wir uns an, was die konzeptionellen Unterschiede zwischen zwei verschiedenen Bewegungscurricula sind: Jon Yuen gibt eine eigene Version eines Curriculums für das allgemeine Bewegungstraining:^2019-01-09-movement-jon
- Basiskrafttraining. Kniebeuge, Kreuzheben, Liegestütz, Klimmzüge usw.
- Turnübungen. Muscle-Ups, Frontlever, Planche, einarmige Klimmzüge usw.
- Unkonventionelle Übungen. QDR, Behind the Leg Squat etc.
- Locomotion. Crawling
- Handstand.
- Mobilitätstraining. Ein Gelenk von einem Ende zum anderen Ende der Bewegungsamplitude bewegen.
- Flow/Improvisation. Etwas dem Capoeira ähnliches. Tanz.
- Partnerarbeit. Leichtkontakt Kampfsport
Sehr viele der Dinge fallen unter etwas, dass ich köstliche Künstlichkeit genannt habe: Basiskrafttraining, Turnen, Unkonventionelle Übungen, Handstand, Mobilitätstraining. Dann gibt es noch einige tierische Bewegungsmuster wie Lokomotion und Partnerarbeit sowie den Tanz als Bereich des Menschlichen. Wenn wir mein Model zugrunde legen, ist das Curriculum von Jon äußerst unvollständig. Woher kommt dies?
Dazu müssen wir uns die sogenannte Movement Culture ansehen. Hier kommen Menschen zusammen, die einen eher künstlerischen Anspruch an Bewegung haben. Sie trainieren nicht für etwas, betreiben also nicht eine Sportart oder arbeiten für einen gesunden Rücken. Movement ist ein künstliches Konstrukt, dass losgelöst von seinem Dasein in der Welt wieder zurückgeführt werden soll. Der Anspruch ist auch, dass wir Menschen in der Moderne depmoved sind -- unterbewegt. Daher wird Bewegung künstlich wieder ins moderne Leben zurückgeführt. Dabei bleibt Bewegung künstlich.
Das Gegenteil wäre beispielsweise der Ansatz von Katy Bowman und ihrer Hauseinrichtung. Sie spricht darüber hinaus auch von einem zentralen Unterschied von von Training und Bewegung. Training ist ein winziger Bereich aus der großen Welt der Bewegung.