Warum ich nie 6 Stufen einer Treppe springen werde

Ich stehe vor der Treppe und frage mich, ob ich es wagen sollte, 6 Stufen zu springen.

Treppensprünge sind, seit ich sie bei einem Training bei Joseph Bartz eine Stunde lang gemacht habe, eines meiner liebsten Trainingswerkzeuge. Sie sind wie Rudern oder Holzhacken: Ein intensiver Kraftimpuls, gefolgt von einem Moment der Ruhe, bevor der nächste Zyklus beginnt. Hier kommen meine wichtigsten Trainingsstärken zusammen, Schnellkraft und allgemeine Ausdauer, ohne dass meine Schwächen wie lokale Kraftausdauer oder Beweglichkeit eine Rolle spielen.

Mit einem Sprung kann ich 5 Stufen mit Leichtigkeit nehmen. Doch ich bin nie 6 Stufen gesprungen. Ich habe mich allmählich für die 6 Stufen vorbereitet. Zentimeter für Zentimeter bin ich weiter weg von der Treppe gegangen, um die 5 leichten Stufen zu springen.

Jedes Mal, wenn ich vor den Treppenstufen stehe, frage ich mich, ob ich die 6 Stufen in Angriff nehmen sollte. Die korrekte Antwort ist: Nein.

Ich bin fast 40, 39 bin ich in dem Augenblick, in dem ich diesen Text schreibe. Aber „mein Alter sieht man mir kaum an“. Nahezu überall, wo ich hingehe, bin ich mit Abstand der fitteste Mensch. Ich bin genauso schnell, stark und ausdauernd wie immer. Seit einigen Monaten experimentiere ich mit dem Harnisch. Das ist ein Programm, das ich entwickle, um meinen Körper mit einer Rüstung aus Beweglichkeit und Stabilität auszustatten. Ich spüre die Fortschritte in Gelenkigkeit, eine meiner größten Schwächen, und eine steigende Robustheit meines Körpers. Ich kann jetzt schon absehen, dass ich meinen Körper bald für einige Jahrzehnte wieder so robust machen kann, wie ich es in meinen 20ern war.

Warum sollte ich die 6 Stufen nicht springen? Warum nicht?

Ich will nicht so tun, als wäre das ein wirkliches Dilemma in meinem Leben. Diese 6 Stufen nicht zu springen, ist die korrekte Entscheidung. Der Konflikt ist kein echtes Dilemma. Die Teile meiner Psyche, die hier im Streit um die Entscheidungshoheit stehen, sind mein Selbst und Geister meiner Vergangenheit. Ich bin ein erwachsener Mann. Die Geister meiner Vergangenheit, alte Gewohnheiten, veraltete Überzeugungen, Reste von Unreife, all diese kleinen Teufel haben kein Mitspracherecht in meinem Leben.

Warum habe ich den andauernden Impuls, diese 6 Stufen zu springen?

  • Jahrzehnte habe ich mir antrainiert, bei allem, was ich mache, nach Steigerung, Verbesserung und Fortschritt zu streben.
  • Ich bin extrem explosiv im Oberkörper. Seit meiner Pubertät bin ich sehr stolz auf diese Explosivität und bin immer dazu verführt, mit dieser zu prahlen.
  • Ich habe in meinen 20ern enorm an Gewicht zugelegt (mit 24 wog ich etwas mehr als 80 kg, bei 7-8 % Körperfett wog mit Anfang 30 112 kg), ohne Athletik zu verlieren. Ich habe immer großen Wert auf diese Athletik gelegt und Sprint, Sprung, Wurf und Agilität im Allgemeinen sind die großen Äußerungsformen von Athletik.
  • Ich habe eine starke Tendenz dazu, bei allem, was ich mache, gleich voll aufzudrehen.
  • Ich springe gewöhnlich die Treppe einer Bahnhaltestelle hoch. Dort sind viele Menschen und ich habe sowohl den Impuls ein Vorbild durch ungewöhnliche Leistungen zu sein (wenn ich die Menschen sympathisch finde), als auch Verachtung für den modernen Verfall und die träge Genügsamkeit der Menschen (wenn ich die Menschen unsympathisch finde).

Das sind nicht alle Gründe, aber ich habe reichlich Gründe dafür, diese 6 Stufen zu nehmen. Doch alle sind niedere Gründe.

Ich springe diese 6 Stufen nicht, weil das Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht stimmt. Die Körperteile, die ich verletze, wenn ich den Sprung vermassele:

  • Hand und Handgelenk, weil ich mich bei einem verpasstem Sprung, schnell abstützen muss.
  • Gesicht und vor allem Zähne, wenn ich abrutsche.
  • Sprunggelenk, wenn ich ungünstig aufkomme.

Ich brauche meine Hände und Handgelenke zum Schreiben. Ich arbeite gerade an Onlinekursen für Zettelkasten.de, um das Familieneinkommen zu erhöhen. Verletzungen an Händen und Handgelenken würden meine Produktivität erheblich einschränken. Wenn ich mir die Zähne einschlage, würden enorme Kosten auf meine Familie zukommen. Ich verlöre Zeit beim Zahnarzt, die ich zum Arbeiten und für meine Familie brauche. Mein Hund ist sehr schwierig und dazu noch sehr aktiv. Verletzte Sprunggelenke würden meine Kapazität, ihm gerecht zu werden, erheblich einschränken.

Selbst in dieser einfachen Alltagsentscheidung steckt der uralte Konflikt zwischen dem höheren und dem niederen Selbst. Die Frage ist nur, in welchen Dienst man das Ich stellen will. Dabei gibt es kaum echte Dilemmata. Man kann die drei Beteiligten dieses Konflikts philosophisch zerreden. Doch in der überwältigenden Mehrheit der Fälle ist absolut klar, was man zu tun hat. Das liegt daran, dass in der überwältigenden Mehrheit der Fälle klar ist, welcher Impuls durch welchen Kombattanten hervorgerufen wird.

Die universelle Wahrheit ist: Der Impuls des höheren Selbst ist immer der Richtige ist, der Impuls des niederen Selbst immer der Falsche. Das Ich, das sind wir, hat sich gegen die Anreize des niederen Selbst und für die Vernunft des höheren Selbst zu entscheiden. Das ist die korrekte Entscheidung.

Wir Menschen wissen so gut wie immer, was die richtige Entscheidung ist. Treffen wir die falsche Entscheidung, erlauben wir den Sieg dieses niederen Selbst über das höhere Selbst. Wir scheitern nicht aus Mangel an Wissen, sondern aus Mangel an Charakter. Erkennen wir unser Scheitern nicht an, belügen wir uns selbst. Wir stärken damit das niedere Selbst in uns. Es fängt mit „Ab und zu ist das nicht schlimm.“ an und wird zu „Ab und zu muss das sein.“

Nun kann man sich fragen, ob man aus dieser kleinen Sache wie Treppensprüngen, eine große Sache machen sollte.

Der Grund dafür, dass ich Treppensprünge ernst nehme ist, dass ich alles im Leben ernst nehme. Ich muss für die wichtigen Entscheidungen üben.

Wir steigen nicht auf die Höhe unserer Hoffnungen, sondern fallen zurück auf die Ebene unseres Trainings. (wird Archilochus zugesprochen)

Ich muss mich auf die wirklich schwierigen Entscheidungen vorbereiten, denn das Leben wird mich mit diesen Entscheidungen konfrontieren. Was ist, wenn meine Mutter im Koma liegt, ich nicht loslassen kann und die richtige Entscheidung, sie sterben zu lassen, aufschiebe? Was ist, wenn mein Vater stirbt, und meine Mutter fragt, wie man es schafft, alleine zu leben? Sage ich ihr die Wahrheit, dass es schwer ist und man mit sich kämpfen muss, oder mache ich sie durch die Lüge, dass es halb so schlimm ist, schwächer, weil ich dann etwas Netteres sagen kann?

Die einzelne Entscheidung ist für sich genommen nicht wichtig. Doch in jeder Entscheidung nehmen wir Kontakt zum Konflikt in uns auf, der in jedem ernstzunehmenden Stück Literatur und jedem religiösen Text Kernthema ist. Dabei ist uns überlassen, was wir mit jedem dieser Kontakte tun. Doch wir können nicht erwarten, ein gutes Leben zu führen, wenn wir die kleinen Entscheidungen des Alltags nicht ernst nehmen.

Mein Training hat eine und nur diese Funktion: Es soll meinen Körper fit, robust und gesund halten. Meine Tochter soll mit einem Vater groß werden, von dem sie mit gutem Grund sagen kann, dass er der stärkste Mann der Welt ist. Ich will zumindest der stärkste Mann in ihrer Welt sein. Alleine mein Anblick soll meine Frau erregen können. Weil mein Training viele Zwecke verloren hat, arbeite ich verstärkt an der Effizienz meines Trainings.

Für wen würde ich die 6 Stufen springen? Für einen niederen Teil von mir. Es wäre eine egozentrische Entscheidung, ein Festhalten an meinem alten Selbst, dessen Zeit zu sterben gekommen ist. Ich bin nicht mehr der zurückgezogene, von einer einzigen Frage besessene Lebenswandelsmönch. Ich bin ein neuer Mensch. Vater und Ehemann. Oberhaupt einer Familie.

Meine Zeit der aggressiven Expansion körperlicher Fähigkeit und Fertigkeiten ist vorbei, für immer. Solange mein Körper noch die Kapazität dazu hat, habe ich anderes zu tun. Und wenn ich wieder mehr Zeit habe, hat mein Körper diese Kapazität verloren.

Es gibt immer eine richtige Antwort auf die Frage des Lebens. Die Herausforderung ist nicht, sie zu erkennen. Es ist der Mut, sie zu geben.