Warum man(n) trainiert

Vorbemerkung: Das ist eigentliche eine E-Mail, die ich geschrieben habe. Aber wegen ihrer hohen Relevanz habe ich sie mit Erlaubnis des Adressaten hier veröffentlicht.

Moin Tobi,

ich habe heute Morgen überlegt, wie genau ich versuchen kann, dir die Rolle von Training im Alltag eines Mannes zu vermitteln.

Es gibt nämlich das praktische Problem auf der einen Seite: Zeit, Ort, Gewohnheitsaufbau usw.

Doch das schwierigere Problem ist meiner Meinung nach zu verstehen, was es eigentlich bedeutet zu trainieren. Das ist je nach Situation unterschiedlich.

Beispiel: Ich habe von meinem Nachbarn am Telefon erfahren, dass mein Vater gestorben ist. Als er aufgelegt hat und ich gewartet habe, dass er mich abholt, habe ich erstmal einen Rucksack gepackt. Ich habe Unterwäsche, Socken usw. eingepackt. Reservekleidung für den Fall, dass etwas passiert. Außerdem habe ich Essen eingepackt usw. Ich wusste, dass ich erstmal für ein paar Tage bei meiner Mutter bleiben würde. Also habe ich genau dafür Sachen gepackt.

Die bedingungslose Kontrolle meines Lebensalltags (Ernährung, Training usw.) war so tief in mir verankert, dass auch der Tod meines Vaters nichts daran geändert hat.

Die Frage ist, ob es jetzt bewundernswert diszipliniert ist, was ich getan habe, oder eher ein Anzeichen von Gefühlskälte. Beides ist möglich. Ich schätze, es ist eine Mischung aus beidem, weil ich dazu tendiere, sehr kalt zu werden, wenn die Situation sehr stressig ist.

Was aber außer Frage steht, ist, dass ich mich selbst als eine Art Mönch gesehen habe. Mein Lebenswandel war mein Kloster. Mein Kloster war immer bei mir und mit mir. Daher hatte ich früher einige Qualitäten, die ich heute nicht mehr habe und auch nicht mehr brauche. Ich bin heute offener und toleranter für Abweichungen. Dafür bin ich weniger im Flow und frage mich öfter, was ich tun soll, weil mir die frühere Klarheit fehlt.

Mir ist egal, ob ich nun diszipliniert oder kalt bin. Als Mann ist meine Aufgabe, das zu tun, was getan werden muss. Es spielt keine Rolle, was ich fühle. Herzenswärme oder eines aus Eis. Was immer mir hilft, das Richtige zu tun, ist mir recht.

Was heißt es also, zu trainieren? Als moderne Männer vergammelt unser Körper. Uns wurde ein Schwert mit zwei Schneiden geschenkt. Wir müssen unser Leben nicht mehr gegen Bären oder andere Männer im Kampf um Leben und Tod riskieren. Jemanden zu töten, selbst getötet oder verkrüppelt zu werden, ist heutzutage außergewöhnlich. Das ist ein wunderbares Geschenk. Aber es macht schwach, körperlich und geistig. Deswegen müssen wir trainieren. Körperlich und geistig.

Das körperliche Training kann auch den Geist trainieren. Es kann uns Männern eine Gelegenheit geben, einzuüben, dass wir immer tun müssen, was wir zu tun haben.

Wir haben darüber gesprochen, dass es eine großartige Motivation zu trainieren ist, ein toller Hecht für die Kinder zu sein. Aber das ist ja nicht einfach zum Angeben da. Man muss tun, was ein toller Hecht tut. Das heißt zum Beispiel auch dann zu trainieren, wenn einem nicht danach ist. Erst dann leben wir unseren Kindern vor, dass man nicht Sklave seiner Gefühle ist, kein Blatt im Wind, kein Untertan der eigenen Impulse.

Je weniger einem nach Training ist, desto größer ist die Gelegenheit! Die Chance ist: Sich selbst zu härten. Das ist heutzutage wichtig, weil wir heute so wenig Gelegenheiten haben.

Wir haben auch darüber gesprochen, dass ich verstehen kann, wie das mit Kindern ist. Und ja: Ich verstehe. Das ändert aber nichts an Richtig und Falsch. Ich habe dir extra Mini-Trainings gegeben, weil dann die praktische Frage des Trainings kaum eine Rolle spielt. 12 Minuten hat man immer irgendwie.

Die Frage, die dir das Leben gerade stellt, ist die Frage, wie du mit dem Gefühl der Überforderung umgehst. Selbstständigkeit mit 60h/Woche plus Kinder sind anstrengend. Aber es wird auch zum Selbstbild, wenn man erlaubt, dass einen das einnimmt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle Menschen in deinem Leben nicht nur Verständnis dafür haben, dass du hauptsächlich damit beschäftigt bist, klarzukommen. Sie fühlen auch mit dir und versuchen dir das Gefühl zu geben, dass das nicht nur verständlich, sondern auch in Ordnung ist.

Doch das ist nicht in Ordnung. Es ist nicht in Ordnung, dass du unter deinen Möglichkeiten bleibst. Diejenigen Menschen in deinem Leben, die dir indirekt ihren Segen dafür geben, dich überfordert zu fühlen, geben ihn dir, weil sie sich diesen Segen selbst geben wollen. Und so tätscheln wir moderne Menschen einander und wundern uns, dass wir mit unserem Leben nicht klarkommen.

Ich sage dir bei vollem Verständnis deiner Situation, dass es nicht in Ordnung ist, nicht zu trainieren, weil man dafür keinen Kopf hat. Ich sage dir das, weil es das ist, was du brauchst. Verständnis hast du schon genug in deinem Leben. Aber keiner sagt dir die Wahrheit.

Einen Menschen, der gegen alle Widerstände sein Training absolviert, den bewundern wir. Wir nennen ihn diszipliniert und willensstark. Und doch will keiner ein solcher Mensch sein. Noch schlimmer: Wir nehmen es in Kauf, dass wir andere Menschen dazu ermutigen, die gleiche schlechte Entscheidung zu treffen.

Es geht nicht ums Training. Es interessiert nichts und niemanden, ob du mal den Handstand, einen einarmigen Klimmzug oder einen dreifachen Salto konntest. Mich im Grunde auch nicht.

Aber ich will nicht, dass du lediglich versuchst, im Leben klarzukommen, weil ich nicht denke, dass das deiner würdig ist. Das ist nicht gut für dich.

-- Sascha