Effizienz - Buchvorschau auf: Die Morgenroutine

Die Beschäftigung mit dem Lebenswandel birgt eine seltsame Gefahr: Der gesunde Lebenswandel zur Götze werden. Er wird zum Selbstzweck und wächst dorthinein, wo uns sogar der Gedanke an das gute Leben schaden kann. Ob exzessives Lesen von Blogs ohne zu handeln oder allgegenwärtiges Ausprobieren des neuesten Supplements oder Superfoods -- das Thema Lebenswandel ist für manche allgegenwärtig. Wir finden es aber auch in Phänomenen wir Orthorexie, dem Zwang immer korrekt zu essen, Sportsucht oder Missionarismus. Im Falle des Lebenswandels können wir von einer Orthopraxie sprechen: Der Zwang immer das Richtige zu tun. Die Ernährung muss perfekt sein, das Training dem neuesten wissenschaftlichen Standard entsprechen, Meditation funktioniert nur mit hocheffizienter Erleuchtung. Eine Runde Fußball mit den Kumpels und das gute, alte Mal-Sitzen-und-gucken sind nicht mehr optimal genug.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer von ihnen könnte bei den professionellen Lebenswandlern liegen: Den Trainern, Lehrern, Yogis, Beratern und so weiter. Sie präsentieren sich in sozialen Medien und Internet oft so, dass es wirkt, als wäre ihr gesamtes Leben von diesem Thema bestimmt. Fitness-YouTuber machen morgens Cardio und gehen Abends trainieren, dazwischen besteht der Tag ausschließlich daraus, Tupperdosenbefüllen und Anleitungsvideosgucken. Yogis verbringen die ersten zwei Stunden des Morgens mit einer zweistündigen Erleuchtungssitzung und sie hören erst auf, wen jedes Chakra leuchtet wie eine Weihnachtskugel -- der Rest des Tages ist rein vegetarisch und ihre Hosen pluddern in feinster indischer Tradition. So kommen zwei Dinge zusammen: Der gute Lebenswandel wird erstens von Menschen präsentiert, die sich hauptsächlich mit seiner Bewältigung beschäftigen. Es ist ihr Beruf und manchmal Berufung. Natürlich sind Training, Ernährung, exotische Maßnahmen wie Eisbäder und Bildungsreisen zentral für ihr Leben. Dazu kommt zweitens, dass sie nur natürlich hauptsächlich den kleinen lebenswanderlischen Ausschnitt aus ihrem Leben präsentieren. Dadurch wird der Eindruck noch weiter verstärkt.

Ein weiterer Grund ist, dass unsere Moderne noch sehr jung ist. Damit ist sie uns eigentlich sehr fremd. Gute Erziehung und Entwicklung in eine Moderne hinein ist noch unbekannt. Der nie dagewesene Überfluss ist neu. Die allgegenwärtigen Medien sind neu. Es gibt heutzutage Sprünge, Brüche und Veränderungen, wie sie kaum radikaler sein könnten.

Die Antibabypille hat beispielsweise zum ersten Mal Sex und Kinderkriegen effektiv voneinander getrennt. Wir entdecken gerade erst, was das für uns heißt und wie wir damit umgehen. Das zwischengeschlechtliche Miteinander muss neue Regeln finden. Der Generationenvertrag (Rente) muss überdacht werden (keine Kinder, keine Rente). Wir haben in die sexuelle Evolution eingegriffen, die uns aus Affen zu Menschen gemacht hat. Effektive Verhütung ist ein so tiefer Eingriff in Conditio Humana, dass wir noch lange keine Ahnung haben, was das kulturell bedeuten wird.

Die Welt, in der wir leben, ist unseren Instinkten davongelaufen. Wir können ihnen kaum noch trauen und können oft nicht einschätzen, was wir tun sollen und wie viel davon. Was ist genug Sport? Welches Training ist das Beste? Wie gesund sollte die Ernährung sein? Wie kriegen wir die beste Makronährstoffverteilung raus? Wie wichtig ist Kältetraining? Was ist mit Fasten und Meditation? Die Moderne fordert, dass wir eine Paradoxie auflösen: Lebe künstlich und bewusst in einer künstlichen Umwelt, sodass das Ergebnis eine natürliche leibgeistige Gesundheit ist. Wir gehen beispielsweise nicht mehr im Winter nach Wollnashörnern jagen, sondern machen die Wim Hof Methode, betreiben Crossfit und ernähren uns paleo. Das gesunde Leben ist uns nicht mehr gegeben. Wir müssen es uns mühsam erarbeiten.

So treffen zwei Gruppen aufeinander: Menschen, die mit der Beschäftigung mit dem Lebenswandel Geld verdienen wollen; Und Menschen, die einen großen Bedarf empfinden, Probleme des Lebenswandels zu lösen. Das ist keine günstige Mischung. Die Versuchung der Profis ist natürlich groß, das Problem als größer darzustellen, als es ist. Sie haben nicht nur ein Interesse daran, die Fragen des Lebenswandels zu beantworten, sondern auch daran, dass immer wieder neue Fragen gestellt werden. Aus “Was ist die Wirkung von Carnitin?” wird schnell mal ein “Der Wunderstoff zum Fettverbrennen? Was steckt hinter Carnitin?” Profis haben ein Eigeninteresse daran, dass genau ihrem Bereich eine besondere Wichtigkeit beigemessen wird.

Dazu kommt ein noch viel fundamentaleres Problem des Lebens in der Moderne hinzu: Es zeichnet sich durch ein immer stärker werdendes Gefühl der Zwecklosigkeit und damit einhergehend eine immer stärker werdende Sinn- und Bedeutungslosigkeit aus. Dieses Gefühl kommt manchmal offen kommuniziert und manchmal versteckt in der äußerst naiven Formulierung “Das Einzige, was zählt ist, dass es dir gut geht!” daher. Nietzsche hat es damals vorhergesehen (!), dass sich in den kommenden Jahrhunderten ein großer Nihilismus breit machen wird: Der Glaube daran, dass man an nichts mehr glauben kann. Der moderne Hedonismus “Mach das, was dich glücklich macht.” ist eine schmeichelnde Verkleidung des Hedonismus. Und was mache ich, wenn das Leben kein Glück für mich bereit hält? Was mache ich, wenn nicht nur ein geliebter Mensch stirbt, sondern auch die anderen Menschen drohen, an diesem Tod zu Grunde zu gehen? Sind dann Jahre des Lebens verwirkt?

Wir Menschen brauchen Sinn und Bedeutung. Sonst gehen wir ein. Wir brauchen etwas, das uns im Leben in guten und in schlechten Zeiten trägt. Glück schafft das nicht. Das schaffen nur Sinn und Bedeutung. Die Beschäftigung mit dem Lebenswandel kann durch innewohnende Andeutung auf Sinn und Bedeutung Halt und Sicherheit geben. Wir wissen intuitiv, dass es irgendwie besser ist, wenn wir gesund essen, meditieren oder an der frischen Luft spazieren, anstatt Serien auf dem Tablet zu gucken, und sich dieses besser nicht nur in Gesundheit oder Wohlbefinden niederschlägt. Warum sollte es da nicht gut sein, wenn wir noch ein Buch über Ernährung lesen? Besser als die nächste Serie jedenfalls, oder? Selbst wenn wir das zehnte Paleobuch mit den immer gleichen Ratschlägen lesen, ist das doch besser, oder? Besser wofür? Der Lebenswandel kann diese Antwort nicht geben, nur die Energie unerschöpflich nach ihr zu suchen.

In der Beschäftigung mit dem Lebenswandel lernen wir das, was wir vor Zehntausend Jahren von Kindesbeinen an gelernt haben: Wie navigieren wir dieses seltsame Fleischraumschiff namens Körper durch unser persönliches Universum. Daher steht dieses Buch im Geiste der Effizienz. Nicht, weil Optimierung gut ist, sondern weil sie guten Zwecken dienen kann. Der Lebenswandel dient dem Leben und die Morgenroutine ist ein Teil des Lebenswandels. Wir werden also davon ausgehen, dass eine gute Morgenroutine effizient ist.

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