Warum man trainiert. Eine Fallstudie
Im Livestream Nummer 71 habe ich gesagt, dass ich keinen besonderen Schwerpunkt auf Bewegung in meinem Leben lege. Meine Begründung ist, dass ich alles aus dem Bereich für mich gezogen habe, was ich ziehen kann.
Mark Balder hat dagegen Folgendes eingewendet:
Ist das nicht etwas salopp beurteilt? Ich mache im Moment höchstens 2x die Woche Kraftsport und trainiere mittlerweile nur noch für MMA. Die Welt, die sich da aufgetan hat ist noch mal eine ganz andere als das vorherige "Kraftsport only". Auch war ich neulich Klettern, und hätte vorher nie gedacht, dass mich das interessiert und ich mich dahin entwickeln kann. Zusätzlich überlege ich, endlich mal was an meiner Laufleistung zu machen, gerade was Dauerläufe angeht. Letztens überheblich einen probiert und es war ziemlich ne Tortur, und ich war schlechter als erwartet. Ich würde niemals so weit gehen, und da das Ende ansetzen. Gerade Kraftsport war immer sehr eindimensional und linear, und für die paar KG Steigerungen im Elitebereich, die an und für sich nicht relevant oder gar über ein gewisses Maß übertragbar fürs Leben sind, musste man monatelang dezidiert trainieren. Das ist ja auch nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn es um Sport und Selbsterfahrung geht und man keine Wettbewerbe usw. machen möchte.
Wir können den Einwand so zusammenfassen:
Bevor du sagst, dass die Bewegung nichts mehr zu bieten habe, sei vorsichtig mit diesem Urteil und beachte, dass die Welt des Trainings sehr weit ist. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass du nichts findest.
Ich will diesem Einwand in zwei Schritten begegnen.
- Ich beschreibe mein aktuelles Bewegungsprogramm als Ausgangspunkt.
- Ich unterscheide zwischen sinnvollen Zielen, die sich auf die Bewegung selbst beziehen, und denjenigen, die sich auf den Nichtbewegungsbereiche beziehen.
Um nochmal klar vor Augen zu haben, auf was ich hinauswill, formuliere ich nochmal anders: Ich halte es nicht für sinnvoll, dass ich mich noch weiter im Bereich der Bewegung entwickle.
Was mache ich aktuell?
Momentan habe ich mich für einen Kraftfokus entschieden. Das letzte Mal, dass ich das gemacht habe, war 2011. Damals verletzungsbedingt. Ich hatte mir die Bänder im Sprunggelenk gerissen und konnte vorübergehend vieles nicht mehr trainieren. Heute habe ich mir diesen Fokus relativ willkürlich gesetzt. Mir schien der Fokus aber vernünftig, weil ich durch meinen Hund in den nächsten zwei Jahren noch viel erzwungene Bewegung habe, bis ihre jungen Jahre allmählich überwunden sind.
Einen Kraftfokus kann man auf unterschiedliche Weise setzen. Man kann sich an Calisthenics probieren. Man könnte aber auch Kraftdreikampf machen und sich auf Bankdrücken, Kniebeuge und Kreuzheben konzentrieren. Oder man fängt Gewichtheben an oder das Turnen an den Ringen. All diese Möglichkeiten basieren darauf, dass man bereits vorgefertigte Zielpakete nutzt.
Ich habe mir meine Teilziele selbst zusammengestellt. Das ist ein bisschen zu viel gesagt. Im Grunde habe ich mir drei Progressionen und Übungen rausgesucht, welche die Kraft des ganzen Körpers auf einfache Weise repräsentieren:
- Freie Handstandliegestütz
- Einarmige Klimmzüge
- Kreuzheben
Ich hätte mir auch andere Ziele wählen können. Ausschließlich basierend auf Übungen mit dem Körpergewicht hätte ich mir folgende Ziele wählen können:
- Einarmige Liegestütz
- Einarmiges Rudern an Ringen
- Einbeinige Kniebeuge (Pistols)
Das wäre beispielsweise ein vernünftiges Zielpaket für einen Jugendlichen, der noch zu Hause wohnt und kein Geld für das Fitnessstudio erübrigen will. Nur ein paar Turnringe braucht es dafür. Mehr nicht.
Mein Training ist teilweise um diese Teilziele herumgebaut. Sie stellen lediglich einen Schwerpunkt dar. Ich werde dafür keine Grundlagen opfern, nur um schneller stärker zu werden. Mein Trainingsprogramm sieht wie folgt aus:
Wochentag | Morgens | Mittags | Nachmittags | Abends | Zwischenroutine |
---|---|---|---|---|---|
Mo | 30-40min LISS | 90min LISS | Kraft 1 | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
Di | 30-40min LISS | 90min LISS | Heben 1 | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
Mi | 30-40min LISS | 2--4h Fartlek | SASS | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
Do | 30-40min LISS | 90min LISS | Kraft 2 | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
Fr | 30-40min LISS | 90min LISS | Heben 2 | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
Sa | 30-40min LISS | 2--4h Fartlek | SASS | 30min LISS | Handstand + Kraft + Mobilität |
So | 30-40min LISS | 90min LISS | 30min LISS |
LISS ist die Abkürzung für Low-Intensity Sustained State. Gehen, sehr langsames Joggen und Ähnliches ist damit gemeint. Für mich heißt das: Mit dem Hund rausgehen. Das heißt, dass ich pro Woche schon ca. 20,5h durch die Gegend laufe.
Fartlek ist heißt Fahrtenspiel. Für mich heißt es, dass ich immer wieder Sprints mit unterschiedlicher Dauer und Intensität einlege.
Kraft 1 heißt, dass ich unmittelbar Progressionen für Handstandliegestütz und den einarmigen Klimmzug trainiere. Dazu mache ich noch Boxpistols. Ich trainiere hier im niedrigen Wiederholungsbereich von 2--4 Wiederholungen pro Satz.
Kraft 2 heißt Ringdips und Klimmzüge mit Zusatzgewicht mache und bulgarische Kniebeuge.
SASS ist Straight Arm Scapula Strength. Heißt: Hang- und Stützwaage (Frontlever und Planche).
Heben 1 ist eine Einheit aus klassischem Kreuzheben im Obergriff mit Ergänzungsübungen wie Pendley Rows und Seitbeugen.
Heben 2 ist eine Einheit mit einer alternativen Hebevariation mit anderen Ergänzungsübungen.
Die Zwischenroutine sieht wie folgt aus:
- A1 Handstand
- B1 Hängen
- C1 Pike Pushup, Defizit 1 Wiederholung mit High Tension Technik von Pavel Tsatsouline
- D1 Klimmzug, Untergriff, Zwei Finger (mit der einen Hand), 1 Wiederholung mit High Tension Technik von Pavel Tsatsouline
- E1 Kreuzheben, einarmig-einbeinig-diagonal, 2 Wiederholungen mit High Tension Technik von Pavel Tsatsouline
- F1 Mobilisierung Schulter (Ausschultern oder Schwünge oder oder)
- G1 Mobilisierung Wirbelsäule (Welle, Kreisen usw.)
- H1 Mobilisierung Hüfte und Fußgelenk (Schwünge, Endrange-Articulations usw.)
Abends mache ich manchmal noch irgendeine Kleinigkeit. 20 Minuten Schattenboxen, 15 Minuten zusätzliche Mobilität, ein bisschen Griffkraft oder Ähnliches.
Wie man sieht, bewege ich mich nicht gerade wenig, wenngleich meine Bewegungsvielfalt nicht berauschend ist. Ich habe einige wenige Ziele, die meinem Training eine Richtung geben, aber eigentlich auch recht beliebig sind.
Sinn in und von Bewegung
The best reason to move is because you can. -- Ido Portal1
Das hat Ido Portal in einem Interview bei London Real gesagt. Doch das ist falsch und auch Ido Portal glaubt nicht wirklich daran. Es ist eine flache Phrase, die im ersten Augenblick Eindruck macht. Wenn es eine tiefe Wahrheit wäre, könnte sie für sich alleine stehen. Doch tut sie nicht und auch Ido nennt die wichtigen Stützthesen. Eine davon ist, dass es gesünder ist. Das ist ein Beispiel für einen Sinn, den Bewegung für den Menschen hat: Wer sich bewegt, ist gesünder. Eine hohe Gesundheit wiederum ist sinnvoll, wenn man Wert auf Freiheit von Schmerz legt oder eine hohe Alltagsleistung erbringen will.
Weil der Sinn von Bewegung für klassische Ziele wie Gesundheit relativ einfach zu begreifen ist, will ich mit dem Sinn innerhalb des Bereichs von Bewegung anfangen. Dieser ist schwieriger zu verstehen.
Fangen wir mit einer einfachen Frage an: Was macht mehr Sinn? Handstand lernen oder Bankdrücken trainieren? Welche Zeit ist sinnvoller verbracht. Ido Portal könnte mit seiner Metapher von Türen und Fenstern antworten:
Manche Fertigkeiten sind Fenster. Man öffnet sie, aber kann nicht ins Haus hineingehen. Andere sind Türen. Durch sie kann man einen neuen Raum voller neuer Bewegungsmöglichkeiten betreten.2
Bankdrücken ist ein klassisches Beispiel für ein Fenster. Es gibt allenfalls einen Kraftübertrag auf andere Druckbewegungen. Man öffnet es und kann heraus oder hereingucken, doch mehr nicht. Der Handstand wäre ein klassisches Beispiel für eine Tür. Kann man den Handstand ergeben sich viele weitere Möglichkeiten, die einem vorher nicht gegeben sind. Man kann nun zum Beispiel freie Handstandliegestütz erlernen.
Diese Unterscheidung ist vor allem im Bereich der Bewegungskomplexität korrekt. Wenn es nur um Bewegung geht, hat man mit “Türen” mehr Bewegungskomplexität geschaffen als mit Bankdrücken.
Ähnlich verläuft die Argumentation, wenn man “Locomotions” gegenüber einem Fitnesstraining an den Geräten rechtfertigen will. Eine Sitzung beinhaltet mehr Bewegungen und jede Sitzung ermöglicht in den folgenden Trainingseinheiten mehr Bewegungen als es das Gerätetraining vermag.
Mark Balders Einwand ist dieser Argumentation zuzuordnen. Er ist eben den Weg gegangen vom Krafttraining hin zum MMA zu gehen, sodass er mehr Bewegungen und Aspekte von Bewegung (Improvisation, Schmerz, Kampf usw.) kennenlernt. Und vor diesem Hintergrund hat er absolut recht: Es gäbe noch viel zu entdecken im Bereich der Bewegung.
Doch die Frage ist, ob es für mich sinnvoll ist, auf diese Entdeckungsreise zu gehen. Bewegung dient für mich folgenden Zwecken:
- Meine persönliche Gesunderhaltung. Meine Bereitschaft gesundheitliche Risiken einzugehen, ist deutlich geringer. Ich brauche meine Gesundheit und Schmerzfreiheit, um meine Arbeit zufriedenstellend zu erledigen. Vor 10 Jahren war es zwar ärgerlich, wenn ich mich mal verletzt habe oder vor lauter Muskelkater kaum drei Schritte ohne Tränen in den Augen gehen konnte. Doch heute sind das Hindernisse, die mich dabei behindern meinen wichtigeren Aufgaben nachzugehen.
- Meine Autorität als Trainer. Ich kann von Menschen nicht verlangen, dass sie Zeit und Energie in den Bereich der Bewegung investieren, wenn ich es selbst nicht tue. Daher trainiere ich immer noch mindestens einmal am Tag und durch meine Zwischenroutinen eigentlich auch den ganzen Tag. Meine Autorität als Trainer hängt davon ab, ob ich den Weg tatsächlich selbst gehe.
- Psychischer Ausgleich. Viel ist hier nicht zu schreiben. Den psychisch befreienden Effekt von Bewegung kennt hoffentlich jeder.
- Eine Weise des Lebens erhalten. Ich will mein Leben in hoher Gesundheit und Fitness verbringen. Ich will nicht dem Zug hinterherrennen und danach ein Sauerstoffzelt brauchen oder nach ein paar Tagen Holzhacken schon müde sein.
Vor allem lege ich immer mehr den Fokus auf meine geistige Arbeit. Ich arbeite aktuell an einem Onlinekurs für das Zettelkastenprojekt, ich intensiviere meine Forschung für mein Großwerk, wovon Lebenswandel: Reflexion und Analyse nur die Einleitung ist. Ich will den größten Teil meiner mentalen Kapazität in diesen Bereich meines Lebens investieren. Meine Bewegungspraktik soll daher das rechte Maß an kognitiver Belastung in mein Leben bringen. Monotonie ist daher ein Stück weit gewollt, denn sie lässt kognitive Kapazitäten frei.
Es gibt im Grunde vier grobe Voraussetzungen für eine vollständige Bewegungspraktik:
- Kraft
- Ausdauer
- Mobilität
- Bewegungsvielfalt.
Die ersten beiden sind gewissermaßen physiologisch. Wenn die persönliche Bewegungspraktik für eine hohe Kraft und Ausdauer sorgt, hat die Bewegung ihren Zweck für die metabolische Gesundheit erfüllt. Das reicht für die zelluläre Gesundheit aus, aber auch für die Gesundheit der Organe.
Mobilität sorgt für die mechanische Gesundheit. Bänder, Gelenke usw. profitieren am meisten von ihr. Natürlich profitieren sie auch von Kraft- und Ausdauertraining, aber eine mangelnde Mobilität basiert auf mangelnder Ausnutzung der Bewegungsamplitude. Dort finden sich dann Probleme. Wenn man beispielsweise nur die Beinpresse für das Training der Beine benutzt, sind die Knöchel unterbewegt. Die Folge sind mangelnde Beweglichkeit in den Sprunggelenken und entsprechende negative Auswirkungen auf Knie, Hüfte Rücken und bis hoch in die Halswirbel. Daher ist es wichtig, diese Beweglichkeit zu erhalten und zu benutzen. Regelmäßige Hocke ist eine Möglichkeit, regelmäßiges Dehnen eine andere. Noch besser wäre es, wenn wir uns in der Hocke bewegen, um noch mehr Winkel im Sprunggelenk zu treffen.
An dieser Stelle setzt die Bewegungsvielfalt an. Ein vielfältiges Bewegungsprogramm bedient sehr viel mehr Positionen und Winkel als ein monotones Bewegungsprogramm. Die Belastung wird breiter gestreut, sodass Überlastungen unwahrscheinlicher werden. Die Bewegungsvielfalt dient auch der neuronalen Gesundheit, die sich als mechanische Gesundheit niederschlägt. Man vermeidet beispielsweise Pattern Overload: Durch Monotonie verarmt gewissermaßen die neuronale Ansteuerung und verursacht Probleme.
Bewegungsvielfalt kommt etwas zu kurz. Das liegt noch an der hohen Belastung durch den Hund. Sie kann beispielsweise noch überhaupt nicht gut alleine bleiben. Eine abendliche Sitzung mit dem Medizinball oder auf dem Geländer ist zunächst nicht machbar. Das kommt aber bald wieder. Die Bewegungsvielfalt erreiche ich in meinem Ergänzungsbereich des Krafttrainings, durch die Fartleks über Stock und Stein, meine Zwischenroutinen und die kleinen Zusatzeinheiten, die ich einstreue.
Aber mein Bewegungsprogramm ist nicht für die Bewegung optimiert. Das war sie noch nie. Als ich diese sehr intensive Trainingsphase hatte, war sie auf meine spirituelle Entwicklung ausgelegt. Natürlich habe ich auch immer eine sportliche Leistungsfähigkeit angestrebt. Aber eher als Weg zu Spiritualität, nicht als Ziel des Wegs selbst.
Sinn meiner Bewegungspraktik
Meine Bewegungspraktik ist genau genommen ein allgemeines Fitness- und Gesundheitsprogramm. Es gibt noch weitere Ziele wie Autorität und Lebensweise. Aber ich habe nur noch eine sehr überschaubare Liste an persönlichen Zielen.
Mein Telos, mein Lebenziel, erreiche ich nicht durch meine Bewegungspraktik. Mein Leben ist auf mein Werk, meine Forschung, mein Schreiben und meine Arbeit als Trainer ausgerichtet. Meine Bewegungspraktik muss diesen Zielen dienen und sie befördern. Die Ziele innerhalb meiner Bewegungspraktik dienen dazu, meine Bewegungspraktik zu strukturieren. Doch die Struktur meiner Bewegungspraktik dient nicht rein dazu, meine Bewegungspraktik besser zu machen. Diese Struktur gibt meinem Training klare Ziele und Schritte, sodass ich ich weniger kognitive Kapazität für sie aufwenden muss.
Dahinter steckt ein Selbstentwicklungsprinzip namens Essentialismus:
Essentialismus ist im Eigentlichen das Streben nach Wirksamkeit. Im Englischen gibt es eine Formulierung die "Majoring in the Minors" heißt. Man behandelt Nebenfächer wie Hauptfächer. Dadurch verringert man die Wirksamkeit ingesamt.3
Wir wollen keinen Bereich unseres Lebens auf Kosten des Lebens ingesamt verbessern. Wir wollen das Ganze unseres Lebens im Blick behalten und unsere Selbstwirksamkeit vor dem Hintergrund unseres ganzen Lebens bewerten. Ein modernes Negativbeispiel ist der Bodybuilder, der sein ganzes Leben auf seinen Sport ausrichtet und dabei seine Gesundheit durch Doping riskiert und wenig in seine Familie investiert, weil er sich ganz und gar mit diesem Hobby identifiziert. Es ist eine besondere und spezialisierte Form der Selbstsucht. Aber auch der Karrieremann, der seine Karriere priorisiert, obwohl sie de facto nur noch Selbstzweck und mehr unnötigen Wohlstand bietet.
Abschließende Worte
Harmonisch ist die beste Lebensweise. Was das eigentliche Ganze ist, das will die Harmonie wissen, damit alle Teile des Lebens sich als Instrument verstehen und nicht als Dirigent. Der ist man immer selbst. Mal gut, mal schlecht.
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Greg McKoewn (2014): Essentialism: The Disciplined Pursuit of Less , Great Britain: Virgin Books. ↩