Selbstwert I - Wie entsteht Selbstliebe?
Es gab bei uns zu Hause eine einfache Regel: Erst ab 17h durfte ich überhaupt nach Süßigkeiten oder Fernsehen fragen. Davor war nicht einmal die Frage erlaubt. Komische Regel, aber seit ich Software benutze, um mir zu bestimmten Zeitpunkten den Zugang zu ablenkenden Websites aus Prinzip zu verwehren, verstehe ich sie endlich. Das macht Sinn. Gute Idee, Mama.
Kinder mögen Süßigkeiten. Wieso geben wir dann Kindern keine Süßigkeiten bis sie kotzen? Naja, weil es nicht gut für für sie ist. Wie kann das sein? Warum sollte etwas, dass sie mögen, superlecker ist und augenscheinlich glücklich macht, nicht gut für sie sein? Wir wissen, dass das, was sich im Moment gut anfühlt, langfristig äußerst schlecht sein kann. Wir übernehmen Verantwortung für Kinder. Das äußert sich dadurch, dass wir kurzfristige Ziele langfristigen unterordnen.
Wie viel Verantwortung kann man übernehmen?
Wir Erwachsenen haben die Verantwortung für Kinder. Wir fühlen uns verantwortlich und handeln danach. Wir machen dies, weil wir glauben, dass Kinder keine Verantwortung übernehmen können. Das ist ein Irrglaube. Richtig ist, dass wir nicht wollen, dass Kinder früh die Verantwortung übernehmen, weil wir ihre Kindheit verlängern wollen. Heute verlängern wir sie teilweise weit in die 20er hinein. Historisch betrachtet ist die verantwortungslose Jugend eine Erfindung der Moderne. Ich will das nicht weiter bewerten. Durch meine Familiengeschichte weiß ich allerdings, wie viel Verantwortung ein Kind übernehmen kann.
Schon meine Eltern haben von früher Kindheit an echte Verantwortung übernommen. So hat man Vater beispielsweise von klein auf einen Stall mit etwa 100 Kaninchen versorgt: Selbstständig, vollständig und ohne Überwachung. Das war schlicht Teil seines Lebens.
Auch für seine körperliche Unversehrtheit musste er sorgen. Gewalt war in Kirgistan Teil der gelebten Realität, insbesondere in der unteren sozialen Schicht. Meine Familie war arm in einem armen Land, das Teil einer der menschenverachtensten Tyrannei in der Geschichte der Menschheit war. Mein Opa hat hat ihn von früher Kindheit an in Gewalt geschult. Er hat meinem Vater zur Verantwortung für seine körperliche Unversehrtheit bemächtigt. Eine Jugend, wie ich sie erlebt habe, hat man Vater nicht gehabt.
Die Geschichte meines Opas ist schrecklich oder schön, je nachdem ob man seinen Weg oder das Ende seines Weges betrachtet. Er hat bereits mit 12 ein Arbeitsbuch bekommen (so nennt es meine Familie). Damit zählte man in der Sowjetunion als vollwertiger Arbeiter. Aber er hat schon wesentlich früher seine zahlreichen Halbgeschwister versorgt. Mit 7 hat er seine Zwillingsschwester mit den Worten “Ich bin ein Mann. Mir werden sie nichts tun.” gegen Wölfe verteidigt. Was für ein seltsamer Satz für einen Siebenjährigen. Er musste seine Geschwister vor dem Hungertod bewahren, bei einigen hat er es geschafft und bei anderen nicht. Um für seine Familie da zu sein, musste er Dinge tun, die man nicht versteht, wenn man im größten Wohlstand der Menschheitsgeschichte aufgewachsen ist. Egal wie eindrücklich und lebendig sie erzählt sind.
Ich werde manchmal gefragt, weshalb ich so großen Wert auf meine familiäre Herkunft lege. Das ist eine Frage, für die ich seit 1923 (Freuds Veröffentlichung von “Das Ich und das Es”) kein Verständnis mehr habe. Kenne dich selbst! Deine Eltern und Großeltern haben wichtige Schlüssel für verschlossene Tore in dir selbst.
Warum erzähle ich eigentlich von meinem Vater und meinem Opa?
Wir bewerten die Realität immer vor dem Hintergrund dessen, was wir für möglich halten. Sind wir von Menschen umgeben, die drei Mal pro Woche trainieren, sind 5 Trainingseinheiten pro Woche schon äußerst ambitioniert. Eben aus diesem Grund veröffentliche ab und zu einen Beitrag zu meinem eigenen Trainingsregime. Wenn ich selbst von anderen Menschen lerne, suche ich nach Menschen, die gleichsam Praktiker und Forscher ihrer Domäne sind. Deswegen verfolge ich dies als Ideal und versuche eben das zu sein: Gleichsam Praktiker und Forscher des Lebenswandels.
Mein eigenes Trainingsregime, meine Ernährung, meine Kälteanpassung, meine Fastentage, all das ist mein echtes Leben und Teil meiner Trainertätigkeit und Teil des Projekts Me-Improved. 12--14 Trainingseinheiten gehören für mich zum selbstverständlichen Alltag. Das ist nichts Krasses, es ist nichts Diszipliniertes, es ist nichts, das mich auszeichnet. Ich bin durch meine Arbeit zeitlich flexibel, muss keine Familie versorgen. Das sind nicht nur wichtige Gründe so zu leben. Ich sehe meine Freiheit als Verpflichtungen an. Würde ich nur so viel trainieren, wie ein Familienvater, wäre etwas nicht in Ordnung. Die Zeit, die mir gegeben ist, darf ich nicht mit Netflix und Chill vergeuden. Das wäre verantwortungslos. Wie könnte ich so jemandem reinen Gewissens zu Disziplin auffordern?
Ich könnte anstelle dessen ein paar hübsche Bizepsbilder von mir veröffentlichen und mit den Ergebnissen meines Lebenswandels hausieren gehen. Doch ein dicker Bizeps ist nicht die Normalität, für die ich einstehen will. Ich will keine Welt der Bizepse erschaffen. Ich will in einer Welt leben, in der totale Verantwortung die Normalität ist, wenigstens aber das Ideal, nachdem Menschen selbstverständlich und ohne zu zögern streben. Dafür mache ich, was ich mache.
Hier schließt sich der Kreis zur Geschichte meines Opas. Mein Opa hat auf eine Weise Verantwortung für sein Leben und das Leben anderer Menschen übernommen, zu der ich nie gezwungen wurde. Er hat von Kindheit an Entscheidungen getroffen, die ich noch nie in meinem Leben treffen musste. Doch ich kann ihn mir zum Vorbild machen. Falsch. Ich muss ihn mir zum Vorbild machen, weil er gezeigt hat, was möglich ist. Was bleibt mir anderes übrig?
Deswegen hat mein eigener Lebenswandel eine solche Bedeutung für mich. Wenn ich anderen Menschen erzählen will, wie ein guter Lebenswandel funktioniert, kann ich meine Integrität nur wahren, wenn ich selbst bereit bin immer den nächsten Schritt zu gehen.
Falls du denkst, dass das ein wenig pathetisch klingt, dann hast du recht. Das Gefühl habe ich auch, wenn ich darüber schreibe. Aber so ist es eben. Natürlich heißt es nicht, dass man nicht lachen darf, wenn man versucht einen leisen Furz herauszuschleusen, aber die Tröte so laut röhrt, dass man Angst vor einer Anzeige für Ruhestörung hat.
Verantwortung und Selbstliebe
Wie entwickelt man Selbstliebe? Die moderne Antwort ist: Man soll sich so akzeptieren, wie man ist, bedingungslos. Das ist schlichtweg an der Realität vorbeigedacht. Liebe ist niemals bedingungslos, sondern immer gekoppelt an Liebenswürdigkeit. Sonst würden wir uns in alles und jeden verlieben.
Wenn du Verantwortung für dich selbst übernimmst, musst du entscheiden, dass du es wert bist. Du musst so handeln, als wärst du liebenswürdig. Übernimmt man keine Verantwortung für sich selbst, dann zeigt man sich selbst, dass man sich selbst nicht für liebenswürdig hält. Warum sollte man sich selbst ertragen, von mögen gar nicht zu sprechen, wenn man sich nicht behandelt wie einen liebenswürdigen Menschen?
Die zweite Regel aus Jordan Petersons genialen Buch 12 Rules For Live ist: Behandle dich selbst wie jemanden, dem du zu helfen verpflichtet bist. Ich habe selten eine so kluge Formulierung dieser Regel gelesen. Selbstliebe ist nicht bedingungslos. Selbstliebe ist die gesunde emotionale Reaktion darauf, dass man sich selbst wie einen wertvollen Menschen behandelt. Echte Selbstliebe ist nicht bedingungslos, sondern muss sich hart erarbeitet werden. Die Höhe deines Selbstwerts ist das Fundament dafür, wie sehr du dich mögen kannst.
Das ist die positive Seite des Prinzips der bedingungslosen Verantwortung. Übernimmst du bedingungslose Verantwortung für dich, behandelst du dich wie einen Menschen, der bedingungslos wertvoll ist. Du schaffst das Fundament für eine bedingungslose Selbstliebe. Nur so geht es, ohne sich selbst zu täuschen.
Daher solltest du dich nicht mit kleinen Zielen zufrieden geben. Schaffe dir ein hohes, ein sehr hohes Ideal. Jeder von uns ist zu gewaltigen Leistungen fähig. Das ist die Lehre, die ich aus der Lebensgeschichte meines Opas gezogen habe.
Aber eigentlich müssen wir es noch stärker formulieren: Jeder ist verpflichtet dazu, nach den höchsten Idealen zu streben. Nur so wird die Welt besser. Ich muss in letzter Zeit oft an etwas denken, das Jordan Peterson gesagt hat. Ich paraphrasiere aus dem Gedächtnis:
Jeder Mensch ist mit einem kleinen Licht in sich geboren -- und der Pflicht das Licht in die Welt zu bringen. Bringt er sein Licht in die Welt, ist sie ein kleines bisschen heller, macht er es nicht, ist sie ein kleines Bisschen dunkler.
Doch beachte dabei die vierte Petersonsche Regel: Vergleiche dich mit dem Menschen, der du gestern warst und nicht mit jemandem, den du heute siehst.
Das Sprichwort sagt, dass wir manchmal mit dem Kopf durch die Wand wollen. Doch das Sprichwort ist nicht vollständig übermittelt. Das wäre nicht FSK12. Menschen, die wirklich nach diesem Lebensgrundsatz leben, nehmen großen Anlauf, knacken sich den Schädel auf, verspritzen ihr Gehirn im Raum und versauen den Teppich. Geh nicht mit dem Kopf durch die Wand! Verwechsle nicht das Ideal mit der Realität.
Wunschprinzip und Realitätsprinzip der Selbstliebe
Es gibt zwei Modelle von Selbstliebe.
Das Wunschprinzip. “Akzeptiere dich.” “Liebe dich bedingungslos.” “Sei nicht neidisch auf die Leistungen anderer.” An solchen Sätze erkennt man dieses Prinzip. Es sind hohle Phrasen, die auf der Annahme basieren, dass man sich Selbstliebe durch Tricks erarbeiten kann. Man muss es sich nur stark genug wünschen, dann klappt es schon. Wer es nicht schafft, wünscht es sich nicht stark genug. Tricks funktionieren nicht. Das Kaninchen verschwindet nicht wirklich im Hut. Es gibt den Trick nicht wirklich, weder in Zauberei noch beim Abnehmen, Muskelaufbau oder Selbstwert. Das ist das Prinzip der modernen Kultur. Deswegen baden so viele Menschen im Hedonismus, bis sie sich in ihm wie in Säure auflösen: Nur wenige Menschen wissen, auf welche Weise, man sich selbst mögen kann.
Das Realitätsprinzip. “Vergleiche dich nicht mit anderen.” “Verpflichte dich zur Selbsthilfe.” “Übernimm Verantwortung.” “Sei für andere wertvoll.” Das sind Handlungen, die auf einem realistischen Modell von Ursache und Wirkung basieren. Wenn du Verantwortung für dein Leben übernimmst, wird dein Leben besser. Wenn du deinen Fokus auf den Menschen richtest, der du gestern warst, anstatt auf den dicken Bizeps vom Nachbarn, versaust du nicht den Teppich (mit herumspritzendem Gehirn). Selbstliebe entsteht nicht einfach so. Sie basiert auf Selbstwert. Für Selbstwert gibt es Gründe, es gibt Ursachen. Es ist das Gleiche wie beim Arzt. Wir wollen Ursachen behandeln und keine Symptome.
Versuch nicht zu tricksen. Es klappt nicht beim Lebenswandel. Es klappt nicht beim Selbstwert. Es klappt nicht im Leben.
Abschließende Worte
Der Selbstwert von Kindern hängt noch von uns Erwachsenen ab. Deswegen geben wir ihnen keine Süßigkeiten, bis sie kotzen oder fett werden: Wir kümmern uns um sie. Als Erwachsener beginnt der Selbstwert von einem Selbst abzuhängen. Das heißt, dass wir uns um uns selbst kümmern müssen. Kümmert man sich verantwortlich um sich selbst, entsteht Selbstwert.
Ich halte das für einen äußerst optimistischen Gedanken. Wir haben es selbst in der Hand. Wir können jederzeit bedingungslose Verantwortung übernehmen und unseren Selbstwert steigern. Selbst Kinder können dies, wenngleich es zweifelhaft ist, ob wir dies wollen. Wir können jederzeit damit anfangen, Gute zu tun und Schlechtes zu vermeiden.
Reflexion
Eine einfache Reflexion dafür, wie hoch dein Selbstwert tatsächlich ist: Wie oft lebst du auf Kosten deines zukünftigen Selbst? Wie oft triffst du Entscheidungen, die jetzt gut sind und bald schlecht?
Lebt man auf Kosten des zukünftigen Selbst, nutzt man sich selbst aus. Mit einem wertvollen Menschen macht man das nicht.