Endstation Orthorexie - Bist du essgestört?

Zusammenfassung: Orthorexie - Der Zwang das richtige zu essen. Die psychische Seite der Ernährung ist nicht minder wichtig und in diesem Beitrag befasse ich mich mit der Fassette Zwanghaftigkeit.

Orthorexie

Im Nachhinein ist dieser Beitrag enorm angewachsen. Ich habe Selbstreflexion und meine Erfahrung in Beratungssituationen einfließen lassen. Genauso habe ich einige Aspekte von Begriffs- und Wissenschaftssoziologie dazu genommen. Es ist ein ziemlich umfangreicher Artikel und er ist unsystematischer aufgebaut als die Anderen. Den größten Nutzen ziehst du aus diesem Artikel, wenn du die Frage "Was kann ich daraus lernen?" beständig im Hinterkopf behältst. In diesem Beitrag geht es darum, dass du dich zum Nachdenken über dich selbst und deinen Platz in deinem sozialen Umfeld anregen lässt. Wenn das nicht dein Interesse ist, dann ist der Artikel verschwendete Energie für dich.

Warum mit Orthorexie beschäftigen, wenn man nicht krank ist?

Wenn man auf seine Ernährung achtet und sichtlichen Verzicht übt, wird man mit dem Vorwurf konfrontiert, man sei essgestört. Das betrifft vor allem ehrgeizige Bodybuilder, die für ihre Leidenschaft für Tupperware bekannt sind, aber auch Menschen, die ein chronische Leiden haben und deswegen beispielsweise auf Getreide verzichten, damit sie weniger Bauchschmerzen haben.

Besonders stark reagieren Menschen auf eine besondere Ernährungsweise, wenn der Gegenüber kein besonderes Leiden hat. Das ist wichtig um zu verstehen aus welcher Quelle dieser Vorwurf kommt.

Üblicher Weise kommt dieser Vorwurf, wenn die eigene Ernährungsweise eine besondere Relevanz für das Leben des Gegenübers hat. Wenn ich auf Getreide verzichte, weil ich eine Zöliakie habe, wird niemand mein Verhalten kritisieren. Normalerweise beißt der Gegenüber in sein Brötchen und bekundet in diesem Fall Mitleid.

Wenn ich jedoch keine Getreideprodukte oder zuckerhaltigen Dinge zu mir nehme und das damit begründe, dass sie grundsätzlich schlecht für die Gesundheit sind, sehen das die meisten Menschen als einen Vorwurf. Wenn diese Dinge doch grundsätzlich schlecht sind, ist die Entscheidung sie zu essen ebenfalls grundsätzlich schlecht. Soziale Kongruenz ist eines der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen. Diese sehen viele Menschen durch eine derartige Konfrontation gefährdet.

Auch Punker suchen sich ihre Gleichgesinnten und sind erst zusammen wieder im inneren Gleichgewicht. Der einzige Punk der Schulklasse ist dies normaler Weise nicht.

Der Gegenüber hat von hier aus verschiedene Möglichkeiten zu reagieren. Einige davon sind:

  1. Er kann sich informieren, dich ausfragen und dann die Relevanz für sich entscheiden.
  2. Er kann deine Position auf sachlicher Ebene angreifen und die Richtigkeit deiner Begründung selbst anzweifeln.
  3. Er kann dich als Informant angreifen und sagen, dass du keine Ahnung hast.
  4. Er kann die Relevanz für sich leugnen und sagen, dass er lieber das Leben genießt.

Die Häufigkeit der verschiedenen Szenarien entscheidet sich leider am Aufwand für die Person.

Die häufigste Situation ist die vierte Situation. Diese Reaktion ermöglicht es dem Gegenüber keinerlei Veränderungen vorzunehmen. Es gibt ebenfalls keine Konfrontation. Hier spielt dein Gegenüber das "Deine Meinung - Meine Meinung"-Spiel. Meine Empfehlung hier lautet hier: Lass' dich auf das Spiel ein. Mach' dir bewusst, dass du selbst auch ein Mensch bist und auch das Bedürfnis nach sozialer Übereinstimmung hast. Der Drang den Gegenüber zu überzeugen wird aus diesem Bedürfnis gespeist. Dein Gegenüber hat jedoch bereits gezeigt, dass er keinerlei Auseinandersetzung - weder sachlich noch lebensphilosophisch - haben möchte. Diese Erkenntnis wird dir so viel Energie sparen, dass du wahrscheinlich noch ein paar Lebensjahre extra gewonnen hast.

Die zweithäufigste Situation ist dich als Informant anzugreifen. Oft tarnen die Menschen diese Strategie als sachliche Auseinandersetzung, jedoch berufen sie sich dabei schlicht auf Hörensagen oder kommen mit Scheinargumenten wie "Wenn Getreide so schädlich ist, warum habe ich dann keine Probleme?". Um hier sachlich anschließen zu können, muss man dem anderen nachweisen, dass dieser eben doch Probleme hat. Mit anderen Worten: Um sachlich zu bleiben musst du persönlich werden. Üblicherweise wird das Gespräch dann unter diesem Vorzeichen geführt. Dein Gegenüber stellt Fragen, die darauf abzielen, dass du vor allem durch Rechtfertigungen anschließen musst. Es gibt natürlich jede Menge rhetorische Tricks um den Spieß umzudrehen und es wäre mir ein Genuss diese in aller Breite auszuführen. Da dies aber ein Blog rund um die Gesundheit ist, konzentriere ich mich auf die sparsamste Lösung für dich: Lass' es gut sein, denn du kämpfst auf verlorenem Boden

Eine der selteneren Situationen ist, dass der Gegenüber dich ernst nimmt und sachlich auf deine Position eingeht. Hier kann es sich lohnen, dass du dich mit dem Gegenüber auseinandersetzt. Wenn du wirklich Interesse daran hast dem anderen ein paar nützliche Gedanken zu vermitteln, halte dich kurz. Eine kognitive Belastung ist in den meisten Situationen für viele Menschen unangenehm. Erinnere dich daran, dass wir unser modernes Leben kognitiv ohnehin schwer belastet sind. Gib' ihm ein paar Informationen und verlass' das Thema oder das Gespräch. Wenn der Gegenüber das Thema oder gar das Gespräch verlässt, hast du deine Energie verschwendet.

Eine ebenfalls sehr seltene Situation ist, dass sich dein Gesprächspartner selbstständig und einigermaßen offen über das Thema erkundigt. Er holt sich die Informationen von dir und fragt nach, wo er sich weitere Informationen erlesen kann. Das ist eine für alle Beteiligten günstige Situation, weil sie sowohl die Selbstwirksamkeit deines Gegenübers bedeutet, als auch dich vor den beiden ersten Situationen bewahrt.

Natürlich kann die Häufigkeit auch von anderen Faktoren der sozialen Situation bestimmt sein. Wenn ich in meiner Rolle als Trainer von solchen Entscheidungen erzähle, werde ich natürlich überproportional weniger mit dem dritten Szenario konfrontiert.

Was ist Orthorexie?

Orthorexie ist der Zwang das richtige zu essen.

Sehen wir uns zunächst die Eigenschaften dieser Störung an, wie sie in dem Artikel Orthorexia nervosa: Besessen von gesunder Ernährung dargelegt werden:

  • Orthorexie ist eine qualitative Essstörung. Die Fixierung richtet sich nicht auf die Menge sondern auf die Art des Nahrungsmittels.
  • Orthorektiker fühlen sich Menschen überlegen, die sich nicht an eine ähnlich strenge Reglementierung halten. Sie fühlen sich stärker.
  • Bei einem Abweichen von den Ernährungsregeln bestrafen sich Orthorektiker mit noch strengeren Regeln.
  • Orthorektiker nehmen sich Nahrungsmittel mit um auch unterwegs das richtige Essen zu können.
  • Sie meiden manchmal Menschen, die sich ihrer Meinung nach ungesund ernähren.

Sonderrolle der Orthorexie

Bei der Orthorexie entscheidet sich alleine durch die sachliche Begründung des Verhaltens die Gesundheit des Körpers. Magersucht, Esssucht und ähnliche Störungen führen zu immer stärkeren gesundheitlichen Problemen.

Bei der Orthorexie dagegen ist das Verhalten selbst nicht das Problem für den Körper. Ein Orthorektiker, welcher zufällig die perfekte Ernährung für richtig hält, ernährt sich eben perfekt. Es sind ausschließlich die psychischen Kosten, die bei dieser Krankheit interessant sind.

Testfragen: Bist du Orthorektiker?

  • Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  • Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
  • Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?
  • Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?
  • Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
  • Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
  • Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun "richtige" Lebensmittel zu essen?
  • Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  • Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
  • Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?

Wenn du mehr als vier Fragen bejahen kannst, kann man eine Orthorexie erwägen.

Was ist eine Störung überhaupt?

Wichtig für diese Überlegungen ist Folgendes: Ich habe nicht den Anspruch psychologische Aussagen über Personen zu machen. Ich setze mich mit diesem Phänomen und dem Vorkommen im Alltag auseinander um die Grundlage für gute Entscheidungen zu schaffen. Ich werde dazu einige wissenschaftssoziologische und -historische Aspekte aufgreifen. Ich bin ein überzeugter Anwender der wissenschaftlichen Methode, doch wenn man Wissenschaft verstehen will, muss man sich auch mit der Wissenschaft selbst befassen. Wie wird Wissen geschaffen?

Der Zweck dieses Abschnitts ist es erstmal zu klären, ob es für uns überhaupt ein Problem ist, dass man gestört ist. Was als eine Störung definiert wird, muss nämlich keinerlei Problem für uns sein.

Ich beziehe mich nicht auf gesellschaftlich-ökonomische Phänomene. Wenn sich alle Menschen nur noch von echten, unverarbeiteten Lebensmitteln ernähren würden, bräche ein gewaltiger Zweig der Wirtschaft weg. Es gäbe weniger Möglichkeiten sich als Unternehmer zwischen den Produzenten und Konsumenten zu schalten. Nun kann man argumentieren, dass sich dann neue Absatzmärkte ergeben. Eigenschaft der modernen Produktion ist aber, dass die Verarbeitung den Profit legitimiert. Wenn ein Lebensmittel nur noch so konsumiert wird, wie es von der Ernte kommt, ist es notwendiger Weise nicht möglich außer durch Herstellung und Transport weiter direkten Profit zu machen.

Warum ist diese Überlegung wichtig? Um zu verstehen, welche Einflüsse auf den psychologischen Begriff der Störung haben, muss man verstehen, in welchem Kontext Wissenschaft betrieben wird. Die Diagnose "psychologische Störung" im Sinne einer Krankheit ist der Zugang zur materiellen Versorgung unseres Gesundheitssystems.

Wenn wir beispielsweise eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen und nicht selbst die Mittel dafür aufbringen wollen, brauchen wir eine entsprechende Diagnose. So haben wir auch die Berechtigung gegenüber unserem Arbeitgeber eventuelle Arbeitsausfälle nachzuweisen, ohne dass es zu einem Kündigungsgrund kommt.

Wirtschaftlich gesehen ist eine Störung ein Unterscheidungskriterium hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit. Das hat nichts mit unseren Zielen oder unserem Wohlbefinden zu tun.

Genauso sind gesundheitswissenschaftliche Gutachten Steuerungsmittel für das Gesundheitssystem sein Kapital zu verteilen. Es geht schlussendlich immer um monetäre Angelegenheiten. Wenn Übergewicht zu einer bestimmten Belastung für die Wirtschaft (durch Krankheitsausfälle, Belastung der Krankenkassen usw.) wird, werden beispielsweise Forschungsgelder bewilligt. Das gilt aber nur, wenn sich die Investoren einen Gewinn versprechen.

Beispiel: In den USA ist Übergewicht eine Krankheit. Das ist keine reine wissenschaftsinterne Angelegenheit. Dabei geht es auch, wie das Gesundheitssystem mit diesem Phänomen umgeht.

Warum sind derartige Überlegungen für uns wichtig? Schließlich kann es uns egal sein, wenn irgendwer irgendwelche Definitionen von sich gibt.

In unserer Alltagssprache vermischen sich verschiedene Begriffe in ein und demselben Wort. Es ist ähnlich wie mit dem Vogel Strauss und dem Blumenstrauss. Strauß hat hier verschiedene Bedeutungen. So hat der Begriff Störung auch verschiedene Bedeutungen. Wenn wir den im Alltag verwenden, dann schwingt alles mit, was wir gelernt haben. Es sind Dokumentationen, Bücher und wissenschaftliche Auseinandersetzungen genauso wie Talkshows, Mobbing in der Schule und Erziehung die eine Rolle bei unserer Verwendung von Begriffen haben.

Dass nun der Begriff der Störung auch eine wissenschaftliche Bedeutung hat, ist für unser westlichen Denken sehr attraktiv. Durch die Tradition der Rationalität seit Aristoteles haben wir in unserer westlichen Kultur viele Denkensmöglichkeiten ausgeschlossen. Man vergleiche das Element der Ganzheitlichkeit in der östlichen Medizin im Gegensatz zur symptomatischen Orientierung unserer westlichen Medizin. Die Voraussetzung war tatsächlich die griechische Philosophie. Der Schluss ist, dass auch ein wissenschaftlicher Begriff von Störung erstmal keinen Vorrang vor anderen Verwendungen des Begriffs hat.

Eine andere Sinn dieses Begriffs ist die Abwehr gegen Angriffe auf die von sich selbst empfundene Normalität. Deswegen sagen manche Leute Das ist doch krank!. Wenn man etwas als krank abgrenzen kann, dann nimmt man sich üblicherweise die Legitimation in seinem Zustand zu verharren, denn der ist ja normal oder gar gesund.

Meine Antworten auf die Fragen

Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?

Ja, ich denke deutlich mehr als drei Stunden über meine Ernährung nach. Ich experimentiere mit meiner Ernährung um einen subjektiven Eindruck der Effekte zur Verfügung zu haben. Alles, was ich über Ernährung lerne, beziehe ich auch auf meine eigene Ernährung.

Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?

Ja. Ich plane sie zwar nicht immer wieder neu, aber ich habe an sechs Tagen pro Woche keine Mahlzeit, die nicht planmäßig ist. Spätestens am Donnerstag nehme ich die ersten Planungsschritte für den Sonntag vor, an welchem ich meinen freien Tag habe und dann mehr nach Lust entscheide.

Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?

Ja. Das erste und entscheidende Kriterium ist das Ernährungsphysiologische. Erst danach kommt meine Freude am Verzehr. Ich esse unabhängig von Hunger, Lust oder Laune. Für meinen Sport und mein Leben brauche ich einen sehr gesunden Körper.

Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?

Jein. Der Begriff der Lebensqualität ist hier unklar. Allerdings gibt es natürlich Momente am Tag, in welchen ich auf etwas Lust habe, was ich dann schlussendlich nicht gönne. Für viele kommt das mit Verzicht gleichbedeutend. Ich empfinde es nicht als Verzicht, sondern als Entscheidung für etwas, was mir wichtig ist, und gegen Unwichtiges.

Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?

Ja. Im Verlauf der letzten Jahre bin ich wesentlich strenger geworden. Ich verliere auch am Sonntag immer mehr die Lust überhaupt Süßigkeiten zu essen. Nicht, weil sie mir grundsätzlich immer weniger schmecken. Leckeres ist mir einfach weniger wichtig als das gute Gefühl, dass aus einem unbelasteten Körper resultiert.

Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?

Ja. Mein Selbstwert ist davon abhängig, ob ich die Dinge tue, die ich für richtig halte. Eine gesunde Ernährung ist für mich eine selbstverständliche (Selbst-)verpflichtung.

Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun "richtige" Lebensmittel zu essen?

Ja. Ich komme aus einer russlanddeutschen Familie. Vareniki und Mante sind meine absoluten Favoriten. Vareniki ist mein absolutes Leibgericht seit meiner Kindheit und das hat sich nicht geändert. Beides sind Produkte, die natürlich auf Teigbasis sind. Also esse ich sie nicht.

Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?

Ja, würde ich mich. Ich weiche von meiner Ernährungsweise nicht ab. Selbstverständlich gibt es weniger planvolle Phasen. Wenn ich beispielsweise krank oder trainingsunfähig bin, gibt es weniger Gründe die Mahlzeiten zeitlich abzustimmen. Daher habe ich dann mehr Freiheit.

Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?

Ja, selbstverständlich. Ich stehe in regelmäßigen Konflikt mit meiner Mutter. Wenn ich diese Besuche, beschwert sie sich dauernd, dass ich ja gar nichts mehr esse. Sie kommt vom Standpunkt der Mutterliebe und will, dass ich genieße. Die Schwierigkeiten, die ich eingehe (wie auch das teilweise extreme Training), sieht sie als Einschränkungen in meinem Glück, so wie sie es versteht.

Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?

Ja, natürlich. Meine Ernährung gehört zu der Struktur in meinem Leben, durch welche ich produktiv bin und weiß, wo ich im Leben stehe. Die gesunde Ernährung ist für mich nicht ein Extra im Leben. Es ist direkter Ausdruck meiner Persönlichkeit und es wäre für mich Selbstverleugnung, würde ich davon abweichen.

Bin ich nun gestört?

Nach diesem Fragekatalog bin ich natürlich gestört. Ich bin außerdem sowohl körperlich als auch psychisch sportsüchtig. Welche Konsequenz hat für mich diese Störung?

Ich empfinde mein Leben als reich und erfüllend. Gerade durch meinen Sport und meine Ernährung kann ich Dinge tun, von denen andere nur träumen. Wie ich im Beitrag Gesundheit und Robustheit beschrieben habe, ist es für mich der natürliche Zustand vor Energie zu platzen, dass man einfach loslaufen möchte, so wie es noch in den Tagen als Kind war.

Sehen wir uns zur weiteren Analyse die Kriterien aus dem Standardwerk Psychologie von Gerrig/Zimbardo an. Sie nennen sieben Kriterien:

  1. Leidensdruck Eine Person empfindet ein Leiden, als Folge eines bestimmten Verhaltens. Beispiel: Jemand kann sein Haus nicht verlassen, fühlt sich in Folge dessen eingesperrt.
  2. Fehlanpassung Eine Person kann ihren eigenen oder gesellschaftlichen Zielen nicht gerecht werden. Beispiel: Eine Person trinkt so viel Alkohol, dass sie sich weder selbst versorgen, noch einer geregelten Arbeit nachgehen kann.
  3. Irrationalität Eine Person ist nicht richtig verstehbar. Beispiel: Eine Person unterhält sich mit eingebildeten Stimmen.
  4. Unberechenbarkeit Eine Person ist nicht einschätzbar und ändert ihr Verhalten ohne erkennbaren Grund. Beispiel: Ein Kind schlägt ohne erkennbaren Grund eine Scheibe ein.
  5. Außergewöhnlichkeit Eine Person zeigt ein enorm seltenes Verhalten. Beispiel: Ein IQ von unter 70 Punkten (aber auch von 150 Punkten).
  6. Unbehagen beim Beobachter Eine Person ruft Unbehagen beim Beobachter hervor. Beispiel: Jemand läuft schreiend und sich einnässend durch die Fußgängerzone.
  7. Verletzung moralischer und gesellschaftlicher Normen Beispiel: Jemand tötet.

Es fällt hier auf, dass es zwei Kategorien gibt:

  1. Interne Dinge wie Leidensdruck oder Fehlanpassungen
  2. Externe Dinge, die sich vor allem auf das soziale Umfeld beziehen.

Ist es ein Problem für dich, wenn du gestört bist?

Alles, was in die erste Kategorie fällt, ist notwendig ein Problem für einen selbst. Wenn dein Umgang mit dem Essen ein Leiden für dich bedeutet oder das Erreichen deiner Ziele verhindert, ist das ein Zustand, den es zu beheben gilt.

Alles, was unter die zweite Kategorie fällt, wird erst zu einem Problem, wenn du dadurch Schaden erleidest. Wenn du rohe Eier trinkst, ist das erstmal nichts Schlimmes. Wenn du aber jemand deinem Umfeld hast, welcher diesen Umstand verwendet um dich beständig ins soziale Abseits zu manövrieren, erfährst du die soziale Repression auf Andersartigkeit.

Nimm' die Kriterien als Anlass darüber nachzudenken, ob du wirklich bereit bist die Kosten zu tragen. Kosten gibt es immer.

Wenn die Ernährung dir zum Gefängnis wird, dann ist das ein Zeichen für widersprüchliche Ziele. Ein klassischer Widerspruch ist es Fast Food essen zu wollen und gleichzeitig einen gesunden und/oder attraktiven Körper zu haben.

[pullquote position="right" hidden="true"]Eine gute Ernährung ist gesunder Ausdruck einer gesunden Persönlichkeit.[/pullquote]

Es wird dieser Widerspruch sein, der das Leiden auslöst. Bist du auf der einen Seite orthorektisch veranlagt, hast also den starken Drang nach gutem Essen, und auf der anderen Seite einen brutalen Heißhunger, schlagen sprichwörtlich zwei Herzen in deiner Brust.

Erst wenn du diesen aufgelöst hast, wird das Leiden verschwunden sein. Es gibt nur eine Möglichkeit diese Widersprüche aufzulösen: Es ist die Arbeit an den Glaubenssätzen. Ein gutes Buch dazu ist Awaken the Giant Within von Anthony Robbins.

Du solltest dir auch im Klaren sein, dass soziale Kosten auf jeden Fall entstehen. Ein Teil meiner Identität ist es unkonventionell zu sein. Es ist ein Überbleibsel aus meiner Pubertät. Das bedeutet, dass ich Energie und Motivation aus sozialen Widerständen schöpfe. In meiner Pubertät war das eine Identitätsfindungsstrategie von mir (eine gegensätzliche Strategie wäre das Suchen nach Gruppenzugehörigkeit). Nun bin ich schon lange nicht mehr in der Pubertät, aber ich kann auf einen reichen Schatz an Techniken zugreifen um mit sozialen Widerständen umzugehen. Wenn einer meiner Arbeitskolleginnen also aufgeregt über mich tratschen, weil ich rohe Eier getrunken habe, ruft das keinerlei negative Gefühle in mir hervor. Vielmehr begegne ich dieser Situation mit einer humorigen Gleichgültigkeit.1

Viele bilden sich aber ein, sie würden soziale Bestrafungen wie Lästern oder Witze nicht kümmern. Damit die Ernährung nicht zur Belastung wird, solltest du dem auf jeden Fall Aufmerksamkeit schenken. Als Menschen sind wir soziale Wesen und soziale Isolation ist immer ein Aspekt unseres Lebens, der als negativ zu bewerten ist.

  • Bist du bereit die Kosten zu tragen?
  • Führst du wirklich ein besseres Leben, seit dem du auf deine Ernährung achtest?
  • Bist du dir überhaupt im Klaren, welche Kosten du trägst? Wie groß ist der soziale Stress, den du durch deine Ernährung erfährst? Wie viel komplizierter ist dein Leben durch deine Ernährung?

Ein weiterer Aspekt ist die Selbstbestrafung. Wie schlimm ist es für dich, wenn du aus welchen Gründen auch immer nicht an selbstgewählte Regeln hältst? Siehst du dich selbst als schwach und undiszipliniert? Verschlechtert sich dein Selbstbild?

Ich erlebe es beständig, dass Menschen eine Scheitern im Moment auf sich und die Sache übergeneralisieren. Sie sehen die Ernährung als sinnlos an und blenden auch all das Positive aus. Noch viel schlimmer ist, wenn sie sich selbst als Versager sehen. Die Umsetzung einer guten Ernährung besteht oft in einfachen und vielen Menschen nicht sofort zugänglichen Dingen.

Manchmal braucht man einfach nur eine gute Strategie einzukaufen. In einem Fall hat sich das Blatt bereits durch meinen Ratschlag gewendet vor dem Einkaufen 30g Protein zu sich zu nehmen. Die berühmten Hungerkäufe waren damit passé und der Weg war frei für die Integration einer guten Einkaufsroutine und schon fielen viele Hürden einfach weg.

Eine Person war gänzlich überrascht davon, als ich ihr erzählt habe, dass es ihr zunächst richtig schlecht gehen wird. Sie ist an vielen Ernährungsumstellungen gescheitert, weil sie zuvor immer geglaubt hat, dass sie nur über das Wohlbefinden feststellen kann, dass die Ernährungsform passt. Sie nahm an, dass der Körper schon weiß, was er will und sie müsse nur gut zuhören. Wir leben aber in einer völlig anderen Umwelt. Unser Körper und unsere Psyche sind in einem völlig anderen Kontext entstanden und es kommt häufig zu Fehlern, weil wir nicht artgerecht leben.

In meinem Artikel über Hunger habe ich bereits über die natürliche Umgebung des Hungers geschrieben. Die Behauptung, dass er Körper sich über eine lange Zeit entwickelt hat und wir als Menschen diese Zusammenhänge schlechter regeln können, muss man einschränken. Es ist nicht immer "richtig", was der Körper von einem verlangt. Vor dem Hunger kam immer eine Phase der Aktivität um die Nahrung zu beschaffen. In unserer modernen Welt fehlt dieses, was ein Grund ist, weshalb wir viele körperliche Probleme haben. Die früheren Voraussetzungen müssen wir künstlich wieder in unser Leben holen, damit unser Gefühl wieder in den natürlichen Kontext kommt. So kann unser Körper sich zur Gesundheit entfalten.

Hier sind nun zwei Klassen von Ratschlägen in Bezug auf die Ernährung von mir wiederzufinden:

  • Praktische Tricks
  • Arbeit mit den Glaubenssätzen

Das sind beides Dinge, die wir üblicher Weise nicht lernen. Davon abgesehen, dass das eigentlich zentrale Dinge unserer Bildung sein sollten, gibt es immerhin Trainer und Berater, die uns dieses Wissen vermitteln können. Wenn einem diese Dinge fehlen, steht man vor enormen Schwierigkeiten.

[pullquote position="right" hidden="true"]Das ist das Wesen von Disziplin. Sie haben nicht aufgegeben, obwohl sie keinen Erfolg gehabt haben.[/pullquote]

Beide Personen haben sich selbst als undisziplinierte Menschen gesehen. Ihr Scheitern haben sie durch ihre Identität begründet. "Ich habe eben nicht diesen eisernen Willen." Das haben beide gesagt. In meiner Rolle als Trainer konnte ich nur sagen, dass das Schwachsinn ist. Beide hatten nicht die richtigen Werkzeuge um dieser Ernährungsumstellung zu begegnen. Beide haben es immer und immer wieder probiert. Das ist das Wesen von Disziplin. Sie haben nicht aufgegeben, obwohl sie keinen Erfolg gehabt haben. Es gab keine positive Verstärkung und sie sich einfach auf ihren Willen verlassen. Beide waren also sehr diszipliniert. Es fehlte aber an anderen Dingen zum Erfolg.

Im Scheitern drohten beide sich selbst als undiszipliniert und willensschwach zu sehen. Nur weil ihnen ein paar Tipps und Werkzeuge fehlten, drohten sie ihre Identität zum Schlechten hin zu gestalten.

Beide waren orthorektisch veranlagt. Sie wollten beide dringend das Richtige essen. So kann eine orthorektische Veranlagung zu einem erheblichen Problem werden. Darum ist es wichtig für dich, dass du diese Veranlagung erkennst. Diese Veranlagung kann Fluch oder Segen sein. Mir ermöglicht diese Veranlagung glücklicher Weise einen gesunden Körper und eine verbesserte Hirnfunktion (Konzentration und mein Arbeitsgedächtnis haben sich merklich verbessert). Für andere kann diese Veranlagung der Beginn eines schlechtes Selbstbilds sein.

Eine orthorektische Störung kann sich also reibungslos und bereichernd in deine Identität einfügen. Sie kann aber auch verheerende Wirkungen auf dich und dein Leben haben.

Das ist einer der Gründe, weshalb ich Verhalten, Gewohnheit und Glaubenssätze immer in den Betrachtung der Ernährung und eigentlich auch des gesamten Lebenswandels einfließen lasse.

Improved Eating und Orthorexie

Bei Improved Eating lege ich selbstverständlich großen Wert auf die richtige Ernährung. Wie oben beschrieben umfasst der Begriff der richtigen Ernährung nicht nur die Sachfrage. Es geht nicht nur darum den Körper zu entschlüsseln und dann durch den Lebenswandel gesunden zu lassen. Eine gute Ernährung verbessert das Leben durch Gesundheit. Sie darf nicht so zur Belastung werden, dass sie das Leben einnimmt. Eine gute Ernährung ist gesunder Ausdruck einer gesunden Persönlichkeit. Deswegen müssen Dinge wie Verhalten, Gewohnheit und Glaubenssätze dringend berücksichtigt werden.

Dafür gibt es Methoden und Techniken. Es gibt interessante Zusammenhänge zwischen der Nahrung, unseren Gewohnheiten und unseren Glaubenssätzen. Leider scheinen nur wenige diesen Zusammenhängen Beachtung zu schenken. Damit setzen sie sich bestimmten Gefahren aus.

Durch die Beschäftigung mit Orthorexie lernte ich besser zu unterscheiden, wie die Sachfrage der Ernährung mit der Verhaltensfrage und den Glaubenssätzen zusammenhängt.

Fragen

  • Hältst du dich für orthorektisch?
  • Wie entstehen Schwierigkeiten durch deine Einstellung zur Ernährung?
  • Siehst du Glaubenssätze und/oder Gewohnheiten, die im Widerspruch zu deinem Wunsch das richtige zu essen stehen?

Bilder

Photo Credit: left-hand via Compfight cc


  1. Ein Gruß an dieser Stelle an [Klaus Japp][201403141503japp]