Gegen die Steinzeiternährung II: Es gibt sie überhaupt nicht und Getreide ist auch Paleo!
Zusammenfassung: Steinzeiternährung ist schwer zu fassen. Was ist sie überhaupt? Gibt es sie überhaupt? Sogar Getreide und Hülsenfrüchte können paleo sein. Je nachdem, wie wir die Definition formulieren, können wir sie haben oder nicht. Die Steinzeiternährung ist nicht die gute Ernährung an sich. Sie ist ein Hilfsmittel auf der wissenschaftlichen, aber auch der persönlichen Suche, nach der eigenen besseren Ernährung.
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Ein üblicher Vorwurf gegen die Steinzeiternährung ist, dass es keine einheitliche Steinzeiternährung gibt. Diese Kritik wird - richtig aufgebaut - von den heute lebenden Jägern und Sammlern her gedacht und anschließend auf unsere steinzeitlichen Vorfahren ausgeweitet.
Die Ernährung der modernen Jäger und Sammler ist extrem vielfältig. Sie wechselt nicht nur zwischen den Völkern und Kulturen. Auch von Saison zu Saison ändert sie sich.
Wir Menschen sind die hervorragenden Generalisten und haben gezeigt, dass wir unter verschiedensten Bedingungen erfolgreich überleben können. Von der eisigen Arktis bis zum heißen Zentralafrika - wir sind und waren überall heimisch.
So erklärt sich auch die große Varianz der Makronährstoffverteilung. Folgende Nährstoffverteilung hat Loren Cordain errechnet:1
- Protein : 19–35%
- Fett : 28–58%
- Kohlenhydrate : 22–40%
Je nördlicher die Kultur ist, desto geringer ist der Kohlenhydratanteil an der Ernährung.
Wenn wir bei den modernen Jägern und Sammlern schon keine einheitliche Ernährung vorfinden, welchen Grund haben wir, dies bei Jägern und Sammlern in den Anfängen unserer Spezies anzunehmen? Die Antwort lautet: Keine.
Die Ernährung von Jägern und Sammlern ist abhängig von den Ressourcen der jeweiligen Umgebung. Bei der Steinzeit denken wir häufig an Eiszeit, Säbelzahntiger, die Feuersteins und Ähnliches. Doch während die Menschen im Norden wirklich relativ fleischlastig gegessen zu haben scheinen,23 ist es völlig unplausibel anzunehmen, dass die Menschen in Zentralafrika zur gleichen Zeit ein ähnliches Nahrungsangebot genutzt haben.
Die Unterschiede in der Ernährungsweise sind auf die Unterschiede in den jeweiligen Habitaten zurückzuführen. Diese Unterschiede gab es damals wie heute.
Wir stellen also fest, dass wir, damals wie heute, keine einheitliche Ernährung vorfanden.
So lautet der Vorwurf der Kritiker:
So etwas wie eine Steinzeiternährung gibt es nicht und gab es auch nie.
Sogar Getreide ist Paleo?
Auch der Glaube es gäbe nicht-verhandelbare Statuten der Steinzeiternährung historischer Herleitung, ist nicht wirklich haltbar.
Die Versuche Getreide nutzbar zu machen lassen sich nicht nur 30000 BC nachweisen.
- Revedin et al. stellten fest, dass in verschiedenen Gegenden (Italien, Russland, Tschechische Republik) Menschen bereits 30k BC Getreide verarbeitet und konsumiert haben.4
- Mercader stellt fest, dass die Menschen in Afrika bereits 105k BC Getreide verarbeitet haben.5
Das zentralste Merkmal der Steinzeiternährung ist der Verzicht auf Getreide und selbst dieser wird durch die archeologischen Befunde in Frage gestellt.
Das ist nicht verwunderlich. Wir Menschen sind die Generalisten der Natur und haben schon in der Vergangenheit versucht, wirklich alles nutzbar zu machen.
Rettung der Steinzeiternährung als Hypothesenmaschine
Nun kann man natürlich einwenden, dass wir den Getreidekonsum bei den heutigen Jägern und Sammlern nicht vorfinden. Diese Evidenz wird uns zwar nicht genommen, aber ist es überhaupt wichtig?
Das Paleo-Paradigma ist keine wissenschaftliche Rechtfertigung. Es ist überhaupt keine Rechtfertigung, sondern erstmal eine Beobachtung.
Wir stellen zwei Dinge fest:
- Jäger und Sammler, gleichgültig welcher Zeit, haben sich auf eine bestimmte Weise ernährt. Sie haben gejagt und gesammelt, woraus sich ein bestimmtes Nahrungsmenü entwickelt hat.
- Jäger und Sammler besaßen eine hohe Gesundheit und waren weitgehend frei von Zivilisationskrankheiten, die heute immer häufiger auftreten.
Wir können aber nicht sagen, dass hier ein kausaler Zusammenhang besteht. Der Fehlschluss nennt sich: cum hoc ergo propter hoc
Auf Deutsch wird daraus eine berühmte Regel formuliert: Aus Korrelation folgt keine Kausalität.6
Beispiel: Es gibt immer weniger Störche. Die Geburtenrate sinkt. Daraus sollte man aber nicht schließen, dass der Storch die Babys bringt.
Im Wikipedia Artikel cum hoc ergo propter hoc findest du weitere Beispiele dazu.
Die Funktion der Steinzeiternährung ist es auch nicht, eine Rechtfertigung für bestimmte Aussagen bereitzustellen. Die Überlegungen zur Steinzeiternährung sollen lediglich eine Reihe von Hypothesen (Annahmen) generieren, denen wir nachgehen können.
[pullquote position="right" hidden="true"]Auch durch die Forschung erhärtete Hypothesen musst du erstmal im Selbstexperiment für dich bestätigen.[/pullquote]
So habe ich meine Definition von Steinzeiternährung gewählt. Sie hat überhaupt nichts mit der historischen Ernährung unserer Vorfahren zu tun. Meine Definition ergibt sich aus den technologischen Gegebenheiten eines Jägers und Sammlers.
Damit fange ich gleichzeitig das intermittierende Fasten und das Konzept des Hungers ein. Durch diese Definition habe ich auch einen theoretischen Blick für die Ernährung von wesentlich mehr Tierarten als den Menschen. Erst dadurch bin ich auf das zeitliche Konzept von Hunger gekommen.
Die Steinzeiternährung hat als Konzept genau zwei Funktionen:
- Es ist ein Mittel, um Hypothesen zu generieren. Weil hier eine Korrelation mit Gesundheit vorliegt, sind diese Hypothesen aussichtsreicher als zu raten.
- Wenn wir hinterher das Modell durch Prüfung der daraus abgeleiteten Hypothesen bestätigen können, dürfen wir das Modell als eine gute Heuristik betrachten. (Erklärung von Heuristik folgt unten)
Zum ersten Punkt: Das ist etwas, was ganz wichtig ist. Fragt jemand nach unseren Gründen, weshalb man kein Getreide essen sollte, ist es nicht hinreichend, zu behaupten, weil die Menschen in der Steinzeit kein Getreide gegessen haben. Selbst, wenn wir keinerlei Evidenz hätten, dass Getreidekonsum schon relativ früh angefangen hat, wäre das ein schlechter Grund. Wir haben erst aussichtsreiche Annahmen, die wir trotzdem noch prüfen müssen.
Zum zweiten Punkt: Die Prüfung der Hypothesen muss nicht unbedingt in der Universität passieren. Das Selbstexperiment ist für dich als Überprüfung der Hypothese schon hinreichend! Es mag keine wissenschaftliche Überprüfung sein und deswegen nicht verallgemeinerbar, aber das braucht nicht dein Anspruch zu sein. Wenn du festgestellt hast, dass sich etwas für dich bewahrheitet, dann ist das doch genau das, was du willst!
Auch durch die Forschung erhärtete Hypothesen musst du erstmal im Selbstexperiment für dich bestätigen. Der Vorteil von diesen Hypothesen ist, dass sie mit einer noch höheren Wahrscheinlichkeit funktionieren.
Eine LowCarb-Ernährung scheint ein ganz gutes Mittel zum Abnehmen zu sein.78 Trotzdem gibt es einige Fälle, in denen eine kohlenhydratreduzierte Kost nicht das beste Mittel ist. Erst, wenn du dies für dich ausprobierst, kannst du dir sicher sein, dass es auch bei dir so funktioniert.
Was ist eine Heuristik? Die Heuristik ist die Kunst mit unvollständigen Informationen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen. Eine Heuristik ist eine Methode, die Kunst umzusetzen.
[pullquote position="right" hidden="true"]Auf den Vorwurf, dass es keine einheitliche Steinzeiternährung gibt oder gegeben hat, kann ich nur erwidern, dass ich auch an eine vielfältige Steinzeiternährung glaube.[/pullquote]
So behandle ich die Steinzeiternährung. Die Steinzeiternährung ist die menschliche Version Ernährung, die sich aus dem Jagen und Sammeln ergibt.
Vor diesem Hintergrund habe ich folgende Hypothesen generiert:
- Ernährungsformen, welche die Errungenschaften des Ackerbaus ausklammern, sind gesünder.
- Hunger ist Motivator und sollte nicht müde machen.
- Beständige Bewegung ist wichtiger Teil eines gesunden Lebensstils.
- Calorie Cycling ist Teil einer gesunden Ernährung.
Dass wir als Jäger und Sammler gesünder sind als auf dem Sofa mit Pizza in der Hand, scheint mit sehr plausibel.
Wenn ich vor einem Problem, sei es praktischer oder theoretischer Natur stehe, frage ich mich erstmal, wie es bei den Jägern und Sammlern wohl war. So gewinne ich eine Hypothese. Dann beginne ich diese Hypothese zu prüfen.
- Gibt es physiologische Eigenschaften des Körpers, die für diese Hypothese sprechen?
- Gibt es andere Modelle, aus denen sich diese Hypothese ableiten lässt?
Im zweiten Schritt teste ich diese Hypothese an mir selbst. Ein Beispiel dafür ist mein totaler Verzicht auf Zucker im Postworkoutshake:
- Mir wurde die Frage gestellt, ob Zucker im Postworkoutshake wirklich unproblematisch sei. Ich hatte bis dato nur den Effekt der schnellen Kohlenhydrate berücksichtigt.
- Eine Eigenschaft der Ernährung durch Jagen und Sammeln ist, dass Lebensmittel nicht raffiniert werden. Die Makronährstoffe kommen immer mit ihrem natürlichen Mikronährstoffgehalt als Nahrung vor.
- Ich habe mich dann mit der Funktionsweise der Mitochondrien beschäftigt und die drei Szenarien (siehe verlinkter Artikel) entworfen. Außerdem habe ich mir die Implikationen von Dr. Terry Wahls Ernährungsratschläge zur Multiplen Sklerose noch einmal vor Augen geführt. Ein zentraler Aspekt ihrer Empfehlung ist die Gesundheit der Mitochondrien.
- Ich habe die Dextrose durch Obst ersetzt (Bananen sind der Standard) und festgestellt, dass sich mein Befinden verbessert hat.
Bis einschließlich Punkt 2 habe ich keine vernünftige Rechtfertigung für die Annahme, dass die Dextrose problematisch ist. Ich esse sehr mikronährstoffreich und daher war es (noch) plausibel zu sagen, dass die Dextrose kein Problem darstellt.
Fragt jemand, warum ich keine Dextrose in meinen Postworkoutshake nehme, führe ich als Gründe die Punkte 3 und 4 an. Das sind auch die einzigen echten Gründe, die ich habe. Punkt 2 ist der Grund, weshalb ich nach Gründen in dieser Richtung gesucht habe.
Was ist die Steinzeiternährung nun?
Die Steinzeiternährung ist eine Heuristik. Das heißt, dass sie ein Mittel ist, nach Hypothesen und guten Lösungen zu suchen. Sie ist aber selbst keine Rechtfertigung. Dafür müssen wir uns harter Wissenschaft bedienen und gründlichen Selbstexperimenten unterziehen.
Mein Eindruck ist, dass viele in der Paleo-Gemeinde vor diesen Hintergrund resignieren, wenn sie sich mit anderen Leuten argumentativ auseinandersetzen. Sie haben das Selbstexperiment gemacht und finden die These von Jägern und Sammlern auch überzeugend. Sie können aber dann den Widerstand der Wissenschaft und auch der Mitmenschen nicht so recht verstehen.
Der Widerstand der Wissenschaft ist völlig gerechtfertigt. So wie die Steinzeiternährung präsentiert wird, ist sie wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen. Ich halte es aber für unstrategisch die Wissenschaftler als dogmatisch und engstirnig abzutun. Wissenschaft ergibt sich aus einer Methode der Wissensgewinnung. Die Steinzeiternährung als Theorie ist schlicht unwissenschaftlich. Als Heuristik ergeben sich aber interessante Hypothesen und erst an diesem Punkt werden Wissenschaftler hellhörig.9
Ich würde es begrüßen, wenn man aus der Paleo-Gemeinde heraus der Wissenschaft Impulse geben könnte, die sie auch annehmen und verarbeiten könnte. Dazu muss man allerdings verstehen, was das Problem an der Steinzeiternährung ist.
Ich glaube, dass man im Umgang mit den Mitmenschen auch viel profitieren könnte, wenn man weniger das Steinzeitlich-Urtümliche als Begründung wählt. Anstelle dessen könnte man den Prozess der Wissensgewinnung erläutern. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die normalerweise mit Widerstand reagieren, im Verstehen um den Prozess offener sind. Das macht den Umgang mit verständnislosen Menschen einfacher, gleichwohl es natürlich nicht alle Schwierigkeiten ausräumt.
Ein Punkt fehlt noch: Ist es wirklich ein Problem, dass die historisch feststellbare Ernährung von sowohl modernen Jägern und Sammlern als auch den Steinzeitmenschen so vielfältig war?
Es kommt darauf an, wie eng wir die Steinzeiternährung definieren.
Wenn Steinzeiternährung bedeutet, die Tiere und Pflanzen ohne ihren Einfluss durch die Menschen zu essen, dann sind Broccoli und Rind sicherlich nicht paleo.
Wenn Steinzeiternährung bedeutet, dass wir die biochemische Struktur von Nahrung der Steinzeit bloß simulieren müssen, dann sind Broccoli und Rind höchstwahrscheinlich kein Problem.
Auf den Vorwurf, dass es keine einheitliche Steinzeiternährung gibt oder gegeben hat, kann ich nur erwidern, dass ich auch an eine vielfältige Steinzeiternährung glaube.
Fragen
- Wenn dich andere Menschen nach deiner Ernährungsweise fragen. Wie begründest du diese? Ist es dir wichtig diese zu begründen?
- Wie wichtig ist dir Klarheit um die Steinzeiternährung? Irritieren dich Ungereimtheiten (z.B. nachweisbarer Getreidekonsum in der Steinzeit)?
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Cordain, L., Miller, J. B., Eaton, S. B., Mann, N., Holt, S. H., & Speth, J. D. (2000). Plant-animal subsistence ratios and macronutrient energy estimations in worldwide hunter-gatherer diets. Am J Clin Nutr, 71(3), 682-92. ↩
-
Drucker, D. G. & Henry-Gambier, D. (2005). Determination of the dietary habits of a Magdalenianwoman from Saint-Germain-la-Rivie `re in southwesternFrance using stable isotopes. Journal of Human Evolution, 49(1), 19-35. ↩
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Richards, M. P. & Trinkhaus, E. (2009). Out of Africa: Modern Human Origins Special Feature: Isotopic evidence for the diets of European Neanderthals and early modern humans. Proceedings of The national Academy of science of the United states of America, 106(38), 16034-16039. ↩
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Revedin, A., Aranguren, B., Becattini, R., Longo, L., Marconi, E., Lippi, M. M., Skakun, N., Sinitsyn, A., Spiridonova, E., & Svoboda, J. (2010). Thirty thousand-year-old evidence of plant food processing. Proc Natl Acad Sci U S A, 107(44), 18815-9. [abstrakt][abstraktrevedin2010] ↩
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Mercader, J. (2009). Mozambican grass seed consumption during the Middle Stone Age. Science, 326(5960), 1680-3. [abstrakt][abstraktmercader2009] ↩
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Eigentlich ist das genau das Wesen von Induktion und damit aller nichtformaler Erkenntnis (alles, was sich außerhalb formaler Logik, Mathematik und Informatik befindet). Wer sich dafür interessiert kann bei [Humes Induktionsproblem][hume] anfangen und bei dem [Münchhausen-Trilemma][münchhausen] weitermachen. Ich rede hier nur von wissenschaftsinterner Einigung, die sicherlich nicht unangreifbar ist. ↩
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Young, C. M., Scanlan, S. S., Im, H. S., & Lutwak, L. (1971). Effect of body composition and other parameters in obese young men of carbohydrate level of reduction diet. Am J Clin Nutr, 24(3), 290-6. [abstrakt][abstraktyoung1971] ↩
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Volek, J., Sharman, M., Gómez, A., Judelson, D., Rubin, M., Watson, G., Sokmen, B., Silvestre, R., French, D., & Kraemer, W. (2004). Comparison of energy-restricted very low-carbohydrate and low-fat diets on weight loss and body composition in overweight men and women. Nutr Metab (Lond), 1(1), 13. [abstrakt][abstraktvolek2004] ↩
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Vielen Dank an Mat Lalonde für diese Einsicht. ↩