Gewohnheiten sind gespeicherte Willenskraft
Einer der häufigsten Probleme bei der Gestaltung des Lebenswandels ist eine gefühlte Überforderung. Wir fühlen uns für zu viele Dinge zu ständig, müssen uns ständig entscheiden, treffen schwierige Entscheidungen oder kurz: Wir fühlen uns überwältigt. Es scheint, dass das Verhältnis von Willenskraft und Willensbelastung nicht passt. Zu viel Belastung und zu wenig Kraft scheinen die Moderne zu kennzeichnen. Genau aus diesem Grund ist eine gute Infrastruktur aus Gewohnheiten so nützlich. Gewohnheiten sind gespeicherte Willenskraft.
Gewohnheiten bieten unserem Lebenswandel eine Infrastruktur. Wenn du jeden Morgen Yoga machst, ist es nicht nur das Yoga selbst, das eine förderlichen Effekt auf dein Leben hat. Die Tatsache selbst, dass du dir eine Morgenroutine angewöhnt hast, eröffnet dir viele neue Möglichkeiten. Was ist, wenn du Yoga durch etwas anderes ersetzen willst? Vielleicht möchtest du anstelle dessen Tai Chi und Loaded Stretching machen. Mit dem morgendlichen Yoga hast du bereits die Vorarbeit geleistet, um eine morgendlichen Tai Chi Routine zu absolvieren. Du hast gelernt zu einer bestimmten Uhrzeit aufzustehen, einen Platz für die Bewegung gefunden und so weiter.
In der Gewohnheit der Morgenroutine ist all die Willenskraft gespeichert, die du damals aufgewendet hast, um sie dir zu erarbeiten. Sie besteht aus all den mit Schlafsand verklebten Augenaufschlägen, schweren, müden Gliedern und vertriebenen Schweinehunden.
Das ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb einige Menschen mehr Willenskraft zu haben scheinen. Solche Menschen haben sich Gewohnheiten angeeignet. Sie haben Willenskraft gespeichert, die sie jeden Tag wieder anzapfen können. Der Eindruck trügt nicht: Einige Menschen haben tatsächlich mehr Willenskraft als andere. Aber diese Willenskraft kann sich jeder erarbeiten. Hat man sich eine Reihe von diesen positiven Gewohnheiten erarbeitet, verfügt man jeden Tag die Willenskraft der Gegenwart und die Willenskraft der früheren Ichs. Man könnte sagen, dass man sich die Willenskraft von mehreren Menschen erarbeitet hat.
Unsere Energie, unsere Aufmerksamkeit und unsere Willenskraft sind endlich. Wir haben jeden Tag nur genau die gleiche Menge der Zeit und können sie nicht aufsparen. In Büchern über Zeitmanagement finden wir daher regelmäßig die Aussage, dass Zeit nicht gemanagt werden kann. Sie fließt und vergeht immer gleichen und unkontrollierbaren Tempo. Doch wir können die Sekunden des Tages mit mehr Willenskraft und mehr Leben füllen. Wir können unsere Zeit besser nutzen.
Daher sind Gewohnheiten ein so wichtiger Baustein für die Gestaltung des Lebenswandel. Die gestrige Yogasitzung kommt uns heute zu Gute, denn ein kleiner Teil der Willenskraft, die wir in sie investiert haben, ist heute noch verfügbar.
Wenn wir einen guten Lebenswandel haben wollen, sollten wir immer auch einen Teil der Energie, die wir jeden Tag haben, bewusst darin investieren, Gewohnheiten aufzubauen. Dadurch haben wir am nächsten Tag mehr Energie und können wiederum mehr Energie in den Aufbau von Gewohnheiten investieren.
Das erfordert Geduld. Wenn man nicht viel Energie in den eigenen Lebenswandel investiert hat, steht einem auch nicht viel Willenskraft zur Verfügung. Man kann wenig investieren und hat daher am nächsten Tag nur ein kleines bisschen mehr zur Verfügung. Aller Anfang ist schwer. Daher sollte man mit den vielversprechendsten Gewohnheiten anfangen. Eine davon ist die Morgenroutine. Weil die Art, wie wir den Tag beginnen, einen ganz entscheidenden Einfluss darauf hat, wie wir ihn weiterführen können, hat eine gute Morgenroutine einen Einfluss auf jeden weiteren Bereich des Tages. Rennen wir mit einem Coffee-to-go aus dem Haus, wird der Tag einen anderen Verlauf haben, als hätten wir ihn mit 20 Minuten Tai-Chi begonnen.
Die Gewohnheiten sind die Infrastruktur unseres Lebens. Das heißt auch, dass wir irgendwann genügend Infrastruktur haben. Gewohnheiten sollen uns natürlich Willenskraft und Lebenszeit bescheren. Doch wir wollen nicht nur investieren, sondern auch mal Rendite kassieren. Irgendwann ist die Zeit gekommen, dass wir unsere Infrastruktur zwar instand halten, jedoch nicht sehr viel Auf- und Umbauarbeit verrichten brauchen. Dann kommt die Zeit der Ernte und die außenstehenden Menschen, werden sagen: “Du bist aber diszipliniert!” oder “Wow. Deine Willensstärke hätte ich auch.”
Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, musst du selbst entscheiden. Vergangenes Jahr habe ich beispielsweise die Grenzen meiner Bewegungspraktik herausgefunden. Im Sommer habe ich mit fünf Trainingseinheiten experimentiert. Größere (45--90 Minuten) Trainingseinheiten habe ich Morgens, Mittags und Abends absolviert. Kleinere (10--20 Minuten) habe ich Vormittags um 0900 und Nachmittags um 1500 Uhr geplant. Nach einer Weile hat das zwar ganz gut geklappt, doch ich war nicht zufrieden damit, dass ich so viel Zeit in meine Bewegungspraktik investiert habe. Es war, als hätte ich eine Magnetschwebebahn in der Innenstadt gebaut. Also habe ich mein Bewegungsprogramm wieder zurückgeschraubt. Neben meiner Morgenroutine, in der ich gerade mit einer Art Hybrid aus Ausdauertraining und Mobilitätstraining experimentiere, mache ich nur noch Mittags und Abends Trainingseinheiten. Beide dauern etwa eine Stunde. Zusammen mit meinem Zwischenroutinen ist das so viel Bewegung, dass ich mich bester Gesundheit und Leistungsfähigkeit erfreue.
Abschließende Worte und Reflexionsfragen
Wenn du also feststellst, dass du dich durch dein Leben ein klein wenig überwältigt oder du dich für zu wenig diszipliniert fühlst, beginne damit, gute Gewohnheiten aufzubauen. Das richtige Maß von Struktur im Lebenswandel zu finden, dauert eine Weile. Man ist einer ständigen Verhandlung zwischen den Zielen und der Bereitschaft in diese Ziele zu investieren.
- Was ist deine Vorstellung eines guten Lebens? Welche Ziele hast du?
- Welche Infrastruktur brauchst du, damit du einen Lebenswandel hast, der deine Vorstellungen vom guten Leben trägt?