Kleine Entscheidungen sind große Entscheidungen
Fangen wir direkt mit der Paradoxie an: Wie können entscheiden, welche Entscheidungen wichtig und welche unwichtig sind? Beginnen wir damit klare Fälle von klaren Grenzen zu unterscheiden.
Klare Fälle sind leicht zu entscheiden. Es ist äußerst wichtig, wen wir heiraten. Es ist äußerst wichtig, dass wir die richtigen Worte finden, wenn wir auf der Beerdigung eines geliebten Menschen sind und andere Menschen unsere Nähe suchen, weil sie auf Antworten für unbeantwortbare Fragen hoffen. Aber ob wir nun nach Kroatien in den Urlaub fliegen oder lieber doch einen Camping Urlaub in Spanien machen, das spielt keine große Rolle. Ob wir nun die rote oder blaue Hose anziehen? Ein Sack Reis in China fällt um. Die Wichtigkeit mancher Entscheidungen ist uns unmittelbar klar.
Doch die Wichtigkeit von Entscheidungen ist ein Phänomen der unklaren Grenzen. Der Sandhaufen ist das klassische Beispiel in der Philosophie, um ein solches Phänomen zu verdeutlichen. Nehmen wir an du fügst einem Sandkorn ein zweites hinzu und dann ein drittes und so weiter. Ab wann werden aus den einzelnen Sandkörnern ein Haufen? Ab wann wird daraus ein Strand? Ebenso verhält es sich mit Entscheidungen. Wie stark müssen sich die Umstände verändern, bis wir eine unwichtige Entscheidung als wichtig einstufen?
Auf diese Frage kann es keine klare Antwort geben. Für eine klare Antwort brauchen wir klare Grenzen. Ohne klare Grenzen können wir nur für die Extremfälle entscheiden. Das sind die klaren Fälle. Doch das Leben besteht nicht nur nur aus dem Tod geliebter Menschen, blauen und roten Hosen. Es besteht auch aus den Fragen, was wir Essen, welche sportlichen Ziele wir uns setzen, ob und welche Fortbildung wir in Angriff nehmen und so weiter.
Ist es wirklich wichtig, ob wir nun Hähnchen oder Rind essen? Oder ob wir versuchen einen Handstand zu erlernen oder doch lieber mit fünf Bällen jonglieren wollen? Auch hier müssen wir eine Entscheidung treffen, wir müssen darüber entscheiden, welche Entscheidungen wichtig sind. Was hat denn diese Paradoxie hier eigentlich verloren? Ist die Entscheidung darüber, welche Entscheidungen wir ernst nehmen, selbst wichtig? Wie entscheiden wir das nun wieder?
Ein guter Entscheider werden ist wichtiger als die Entscheidungen
Ich habe nun viel von den Umständen geschrieben. Das ist ein kleines Ablenkungsmanöver, denn die Umstände spielen nur einen untergeordnete Rolle. Sie lenken uns schnell ab und das habe in den obigen Absätzen ausgenutzt.
Bevor wir danach fragen, wie ernst wir eine Entscheidung nehmen, sollten wir uns fragen, ob wir überhaupt über genügend Kompetenz verfügen. Bei der Frage der Kompetenz geht es um nichts, dass wir uns einfach anlesen können. Wissen ist keine Kompetenz, Können ist Kompetenz! Wir können uns zentnerweise Bücher über den Stoizismus reinziehen, doch dadurch werden wir keinen Jota kompetenter, gute Entscheidungen zu treffen. Wir müssen üben. Wir bereiten uns auf schwierige Entscheidungen vor, indem wir die Fertigkeiten trainieren, die uns zu einem guten Entscheider machen.
Gute Entscheidungen erkennen
Ganz ohne Wissen über gute Entscheidungen geht es nicht. Wir werden keinen komplizierten “wissenschaftlichen” Weg wählen, sondern über zwei Heuristiken einen pragmatischen Weg.
Konsequenzen guter Entscheidungen führen kurz-, mittel- und langfristig zu guten Konsequenzen. Einer der größten und fundamentalsten Irrtümer unserer modernen Kultur ist, dass Spontanität Quell reinster Lebensfreude ist. Es ist nichts weiter als die nostalgisch empfundene Kindheitserinnerung, die zu einer falschen Götze des Glücks erhoben wird. Wir haben in unserer modernen Kultur verlernt und vergessen, was Glück überhaupt bedeutet. Innere Leere will möglichst schnell gefüllt werden.
Als Kind konnte man das noch machen: Man konnte ganz im Augenblick sein und nichts weiter machen, als seinen unmittelbaren Impulsen zu folgen. Als Kind ist man allerdings auch völlig nutzlos. Man macht nichts weiter als durch die Gegend rennen, Süßigkeiten zu essen und sich gegen die zu frühen Schlafenszeiten aufzulehnen. Kinder sind unschuldig, weil sie nichts weiter können und auch nicht können sollen. Sie haben nur eine Aufgabe: Sie sollen sich zu fantastischen Menschen entwickeln. Doch was macht solche fantastischen Menschen aus?
Sie treffen mindestens Entscheidungen, die ihr Leben jetzt, etwas später und bis zum Ende verbessern. Kinder essen Süßigkeiten bis sie fett und diabetisch werden, wenn sie nach Gutdünken walten können. Deswegen regulieren wir ihren Zugang zu dem ungesunden Zeug. Sind wir erwachsen, müssen wir das selbst machen. Wenn wir den Sinn unsere Lebens jedoch nur darin sehen, dass wir genießen, glücklich und zufrieden sind, beginnt schon an dieser Stelle der Eiertanz: Wie ungesund und krank dürfen wir sein, damit das Leiden eines ungesunden Körpers nicht den Genuss von Schokolade überwiegt? Buddha würde sich im Grabe herumdrehen, tanzte er nicht im Nirvana.
Gute Entscheidungen sind gut für uns, für unsere Familie, für unsere Gemeinschaft und unsere Gesellschaft. Einer der wichtigsten Gründe für einen schlechten Selbstwert ist Egozentrik. Wir können unseren eigenen Wert nicht im Vakuum feststellen. Wir können schon gar nicht beschließen, wie hoch unserer Selbstwert ist. Wir können uns nicht bedingungslos selbst lieben. Lieben können wir nur das, was wir als liebenswürdig betrachten. Vergleichen wir zwei Menschen, um uns das Konzept vor Augen zu führen.
Alfred und Susanne
Alfred arbeitet als mittlerer Manager. Er ist noch jung, unter 30, und verdient recht ansehnlich. Er arbeitet in einer Abteilung eines Großkonzerns, dass sich darum kümmert, dass die Abteilungen der Finanzanwälte verschiedener Länder miteinander koordiniert werden. Er hat keine Kinder und will auch keine Kinder haben. Die stünden seiner Karriere nur im Weg. Sein Traum ist es, im Vorstand zu sitzen. Er hat keine genaue Vorstellung davon, was das bedeutet, aber er glaubt, dass er zu Höherem geschaffen ist. Wenn er sich alleine fühlt, findet sich auf Tinder schnell ein unverbindliches Date.
Susanne arbeitet als Bürokauffrau. Dabei hat sie eine 3/4-Stelle, damit sie mehr Zeit für ihre beiden Kinder hat. Dazu übernimmt sie den Löwenanteil des Haushalts. Es nervt sie zwar, aber ihr Mann ist eine recht inkompetente Hilfe bei der Hausarbeit. Ihr ist lieber, dass sie es selbst macht und dafür weiß, dass sie richtig erledigt wurde. Ihr Mann ist Finanzanwalt in einem großen Konzern, sodass er ständig unter Strom steht. Er gibt sein Bestes und ist oft überfordert. Natürlich ist sie manchmal genervt, aber für ihre Familie bringt sie gerne Opfer. Dafür zwingt sie ihn Samstags mit auf den regionalen Wochenmarkt. Das findet er zwar lahm, aber ihr ist wichtig, dass die Familie auch im Alltag zusammenhält. Ihre beiden Kinder sollen lernen, was gesunde Lebensmittel sind, und dass gesundes Einkaufen dazugehört.
Susanne erscheint liebenswürdiger als Alfred, weil sie sich nicht nur um sich kümmert. Sie kümmert sich um ihren Mann und um ihre Familie. Sie trifft Entscheidungen, die nicht nur gut für sie selbst sind, sondern auch für ihre Familie und ihre Gemeinschaft (regionales Einkaufen). Doch auch hier können wir schnell Probleme aufzeigen. Kennen wir nicht Alfreds mit hohem Selbstwert und Susannes, die einen niedrigen Selbstwert haben?
Dass Susanne einen niedrigen Selbstwert haben kann, steht außer Frage. Wie viele Frauen opfern sich für ihre Familie auf und haben einen schwachen Selbstwert? Es sind viele. Das Problem ist vielschichtig und eine erschöpfender Antwort braucht wohl ein einiges Buch. Als Kultur überschätzen wir den Wert von Karriere und unterschätzen den Wert von Familie. Wir haben es geschafft, der Rolle der Mutter einen äußerst niedrigen Wert beizumessen. Was würden wohl unsere eigenen Mütter dazu sagen? Gleichsam haben wir beruflichen Erfolg auf ein Podest erhoben, und irren dem modernen Gespenst der "Selbstverwirklichung" her, ohne zu verstehen, was das eigentlich ist. Dazu haben wir schwachsinnige Begriffe wie gesunden Egoismus geschaffen, der davon ablenkt, dass es keinen Unterschied zwischen geben sollte zwischen dem für uns Gutem und dem, was für andere gut ist. Diese Unterscheidung reißt ein großes Loch in unseren Selbstwert. Wir glauben, dass wir uns entscheiden müssen.
Entscheidungen durch Auflösung von Widersprüchen treffen
Warum schreibe ich und warum bin ich Trainer? Schreiben ist für mich Denken und ich denke für mein Leben gerne. Klingt komisch, aber ich lege mich manchmal einfach für eine Stunde hin und denke nach -- einfach aus Spaß. Ebenso knoble ich gerne Sachen aus. Jeder Klient von mir ist ein einzigartiger Satz von Problemen, ein komplexes System. Eine der zentralen Aufgaben meiner Arbeit ist es, Menschen sehr genau zu verstehen. Doch ich hätte auch völlig andere Sachen machen können. Ich hätte Linguistiker oder Jurist werden können. Auch das sind zwei Felder, die mir Riesenspaß machen. Doch meine Entscheidung ist besser, weil ich mich unmittelbar um andere Menschen kümmere. Deswegen liegen viele spannende Projekte von mir brach. Evolutionäre System-Ontologie ist jetzt erstmal nicht so wichtig wie Die Morgenroutine. Ich habe mich für meine Arbeit entschieden, sodass es keine Unterschied zwischen meinen Zielen und den Zielen (einiger) anderer Menschen gibt. Ich habe mich dazu entschieden, nicht entscheiden zu müssen.
Dahinter steckt keine altruistische Entscheidung; lediglich die Einsicht, dass richtige Entscheidungen zu besseren Konsequenzen führt. Evolutionäre System-Ontologie macht nur mir Spaß und vielleicht noch einer Handvoll anderer Menschen. Die Morgenroutine ermöglicht es dagegen vielen Menschen ihren Morgen so zu strukturieren, dass er ihrem Tag sehr viel dienlicher ist als bisher. Ich schreibe sie im Bewusstsein, dass ich damit nützlicher für andere Menschen bin. Das ist die Sonnenseite der bedingungslosen Verantwortung. Auch für diese Entscheidung bin ich verantwortlich und nur ich. So entsteht Selbstwert.
Im letzten Beitrag habe ich eine kleine Reflexion zur Verfügung gestellt: Wie oft lebst du auf Kosten deines zukünftigen Selbst? Wie oft triffst du Entscheidungen, die jetzt gut sind und bald schlecht? Lebt man auf Kosten des zukünftigen Selbst, nutzt man sich selbst aus. Das macht man nicht mit einem wertvollen Menschen.
Wir können diese Reflexion erweitern: Wie gut sind deine Entscheidungen für wie viele andere Menschen? Wie viele deiner Entscheidungen dienen nicht nur deinen eigenen Wünschen, sondern sind auch auf das Wohl anderer gerichtet?
Gute Entscheidungen sind gut für mich, für dich, für unsere Familie, unsere Gemeinschaft, unsere Gesellschaft -- jetzt, morgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr, bis zum Ende unserer Leben, bis zum Ende des Lebens unserer Kinder und so weiter.
Entscheidungen üben
Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? — Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das. - Friedrich Nietzsche
Nicht alle Menschen haben die Möglichkeit, die Welt aus den Angeln zu heben. Das ist auch nicht die Aufgabe eines jeden Menschen. Die Welt wäre dann ein ganz schön unruhiger Ort. Doch jedem von uns sind Möglichkeiten gegeben. Unsere Möglichkeiten hängen davon ab, wie gut wir uns als Menschen entwickelt haben.
Wir müssen damit beginnen, uns selbst in eine gute Position zu bringen, müssen lernen gute Entscheidungen zu treffen. Das beginnt damit, dass wir uns um uns selbst kümmern.1 Wir fangen an, gute Entscheidungen zu treffen.
Anstatt täglich auf Kosten unseres zukünftigen Selbst zu leben, beginnen wir damit, uns um unser zukünftiges Selbst zu kümmern. Wir glauben, dass wir uns eigentlich nur ums selbst kümmern. Doch wir sind noch nicht dieses zukünftige Selbst. Sieh dir ein Bild von dir als Kind an. Bist du das wirklich noch selbst oder ist es nicht ein unschuldiges Kind mit allem Potential auf der Welt?[^Danke an Thomas B. für diese Idee.] Du bist nicht das, was in der Vergangenheit war, und auch nicht das, was in Zukunft sein wird. Du bist jetzt und hier. Übernimmst du Verantwortung für dein zukünftiges Ich, übernimmst du Verantwortung für einen anderen Menschen. Sich gut um sich selbst zu kümmern -- das ist nichts weiter als eine Übung in Altruismus.
Fang damit an, dich gut zu ernähren, dich um deine Mobilität zu kümmern, zu fasten, mit Kältetraining, dich stark zu machen, Belohnung aufzuschieben, deine Willensstärke zu trainieren, zu Meditieren, deinen Geist durch Reflexionen zu klären. Triff gute Entscheidungen, für jetzt, für morgen, für nächste Woche, nächstes Jahr. Du wirst feststellen, dass dein Selbstwert steigen wird.
Ist es wirklich wichtig, ob du heute ein Rinderherzgulasch oder eine Pizza isst? An und für sich nicht. Es ist nicht für heute wichtig und vielleicht auch nicht für morgen. Aber du entscheidest nicht nur das. Du entscheidest auch, ob du jemand wirst, der sich in unreifem Hedonismus verliert, oder gute Entscheidungen trifft. Das bleibt in deinem Leben für den Rest deines Lebens.
Ist es wirklich tragisch, wenn du Kaffee trinkst, um dich für eine langweilige Aufgabe aufzuputschen? Auch das ist an und für sich nicht wichtig. Doch auch hier entscheidest du viel mehr. Du entscheidest, ob du ein Mensch wirst, der sich von aufputschenden Substanzen abhängig macht, weil er seine Job langweilig findet. Das bleibt in deinem Leben für den Rest deines Lebens.
Kleine Entscheidungen haben ein symbolische Bedeutung. Diese symbolische Bedeutung ist nicht irgendein theoretisches Konstrukt. Der symbolische Gehalt kommt daher, dass die kleinen Entscheidungen für die großen Entscheidungen stehen. Die kleinen Entscheidungen zeigen, was für ein Entscheider du bist. Je mehr Entscheidungen du ernst nimmst, je mehr gute Entscheidungen triffst, desto besser wirst du als Entscheider.
Dann kommt der Tag, an dem stirbt dein Vater. Plötzlich und ohne Vorwarnung. Du fährst zu deiner Familie und bist genauso verwirrt und aufgelöst wie alle anderen. Die Frage, was zu tun ist, stellt sich nicht einmal. Es gibt keine Fragen mehr, denn die Welt im Chaos versunken, für dich und für andere. Du erinnerst dich daran, was dein Vater dir gesagt hat:
Es wird Situationen geben, in denen sich alle schwach fühlen -- auch du selbst. Dann ist es deine Aufgabe, dich zu Stärke zu entscheiden. - Der verstorbene Vater
Täglich hast du daran gearbeitet, Entscheidungen zu treffen, die gut jetzt und in Zukunft sind. Du hast daran gearbeitet, Entscheidungen zu treffen, die gut für dich und für andere sind. Jetzt kannst du auch diese Entscheidung treffen.
Jordan Peterson hat mal ein interessantes Ziel genannt: Sei die nützlichste Person der Beerdigung. Dann kannst du die Welt ein kleines bisschen besser machen.
Kleine Entscheidungen sind große Entscheidungen.
Reflexion
Wann verhältst du dich wie Homer Simpson?
-
Jordan B. Peterson (2018): 12 Rules For Life: An Antidote to Chaos, Canada: Random House Canada, S. 31. ↩