Reflexionen über meine Bewegungspraktik
Nachfolgend werde ich dir einige sportliche Phasen meines Lebens illustrieren. Das Wichtige dabei ist meine emotionale Verbindung zum Training, nicht das Training selbst. Das ist übrigens ein Ausschnitt aus dem Buch Reflexion und Analyse des Lebenswandels.
Während ich kurze Flirts mit Fußball und Tischtennis im Verein oder Judo in einer AG in der Schule hatte, begann mein regelmäßiges Training, als ich mit dem Boxen anfing. Ich war talentiert und schnell, obwohl ich immer die Schläge auf den Kopf gescheut habe. Das lag nicht an einer generellen Angst vor Schmerz, ich bin mein ganzes Leben lang schon vorsichtig (manchmal übervorsichtig), wenn es um den Inhalt meines Kopfs geht. Jedenfalls habe ich schnell Fortschritte gemacht und wurde entsprechend von den Trainern und Fortgeschrittenen gefördert.
Im Amateurboxen, besonders unter meinem damaligen Trainer Hans, wird Härte zu sich selbst als besonderer Wert angesehen. Während mein Kampfeswille erheblich durch meine Sorge um mein Gehirn gedämpft wurde, konnte ich förmlich sehen, wie sich mein Körper verändert hat. Während ich sonst im Sportunterricht eher mittelmäßig war, gehörte ich beim Boxen nach einigen Monaten bereits zu den besten Anfängern und sparrte mit den besten des Vereins. Das war eine besondere Änderung für mich, weil ich zwar immer eine große Selbstsicherheit hatte, aber gleichzeitig körperlich extrem schwach war. Alleine mein damaliges Gewicht spricht Bände, ich wog nämlich 62kg bei 1,90m Körpergröße, als ich mit dem Boxen anfing. In den Auseinandersetzungen, die in der Schule unter Jungs nur allzu häufig körperlich waren, konnte ich mich gegen nahezu niemanden durchsetzen. Ich fühlte mich von meinem Körper betrogen, weil ich erwartet hatte, dass ich durch die Pubertät zu einem so starken Mann werden würde, wie mein Vater es war. Mit 16 reichte es mir und ich suchte mir drei mögliche Sportarten aus. Triathlon, Karate und Boxen. Das waren die Sportarten, von denen ich mir körperliche Stärke versprach. Der Freund einer Mitschülerin war Boxer und so kam ich zum Verein. Schon nach einigen Monaten fühlte ich mich wie verwandelt. Endlich spiegelte mein Körper das wider, was ich auch psychisch empfunden hatte. Ich füllte die Rolle aus, die mir mein Vater vorgelebt hatte: Ein Mann muss stark sein. Die klassische Rolle eines russlanddeutschen Manns.
So begann ich im Boxen meine Identität als Mann zu entdecken. Obwohl meine Eltern strikt gegen das Boxen waren, bemerkte ich, dass mein Vater den einfachen und ehrlichen Stolz empfand, den ein Russlanddeutscher empfindet, wenn sein Sohn zu einem Mann wird und daran zu glauben beginnt: “Ich hinterlasse der Welt etwas von mir.”
Durch diese Zeit beim Boxen und die Haltung meines Vaters habe ich Schmerz, Anstrengung und Entbehrung als Mittel identifiziert, ich selbst zu sein. Gerade in der Pubertät, die wir in unserer modernen Welt als die Suche nach unserem Selbst bezeichnen könnten, erfuhr ich diese tiefgreifende Prägung. Die Erkenntnis, dass mein Weg zu mir selbst Schmerz, Anstrengung und Entbehrung ist, war der Grund, weshalb ich eben jene Dinge gesucht habe. Auch als ich anfing, andere Dinge zu trainieren, habe ich aus Überzeugung anstrengende Bewegungspraktiken gehabt und diese fast immer ins Extrem getrieben. Das ist ein Grund für meinen generellen Trainingserfolg. Intensität ist wesentlich wichtiger als die Auswahl der richtigen Trainingsmethode.
Warum bin ich nicht beim Boxen geblieben? Ich habe eine zwiespältige Beziehung zu diesem Sport. Einerseits liebe ich das Boxen (und Kampfsport im Allgemeinen). Andererseits fehlt mir die Opferbereitschaft, Treffer auf den Kopf in Kauf zu nehmen. Im Boxen nennt man diese Opferbereitschaft “Herz”. So sehr ich Sport auch liebe, noch viel mehr liebe ich das Denken, das Rätseln und das Lernen. Mein Gehirn ist mir sehr wichtig und wichtiger als ein Sparring ist mir, dass ich am nächsten Tag frei von Kopfschmerzen oder genereller Dumpfheit bin, damit ich klar denken kann. Leider war ich schon immer recht empfindlich für die negativen Konsequenzen am Folgetag harter Kopftreffer. Mir fehlte die Opferbereitschaft, das Herz eines Boxers. Das ist notwendige Voraussetzung. Erfüllt man diese nicht, nützt einem auch keine Schnelligkeit, Ausdauer oder Kraft.
Viele Jahre lang war das wesentliche Leitelement meines Trainings die Selbstüberwindung durch Schmerz. So habe ich immer Bewegungspraktiken gehabt, die dem Boxen auf die eine oder andere Weise ähnlich waren. Immer waren es Praktiken, bei denen Wille, Disziplin, große Anstrengung und großer Schmerz eine Rolle gespielt haben.
In den letzten Jahren wurde mir das allerdings immer mehr zum Hindernis. Ich wollte nicht mehr einfach nur stärker, ausdauernder und schneller werden. Ich wollte die Komplexität meines Bewegungsrepertoires erhöhen. Ich begann mit den ersten Anfängen von turnerischen Übungen und Capoeira. Außerdem begann ich meine Beweglichkeit, als zentrales Element meines Trainings zu begreifen und nicht nur als Abschluss des Tages, als Pflicht zur körperlichen Instandhaltung. Ich bin dieses neue Trainingsziel mit viel zu viel Verbissenheit angegangen. Mein alter Glaubenssatz “Willst du dich selbst finden, musst du den Schmerz suchen” stand mir massiv im Weg. Während ich bis dahin kaum Trainingsverletzungen davon getragen habe, begannen jetzt allerlei körperliche Problemchen in mein Leben zu spazieren. Das führte soweit, dass ich mir fast die Wade abgerissen habe (massiver Muskelbündelriss) und mein Handgelenk für Monate so instabil war, dass ich meiner Freundin nicht einmal beherzt an den Hintern fassen konnte.
Ich bin gerade noch dabei, an diesem Glaubenssatz zu arbeiten, denn mache ich das nicht, hält mein Wunsch, akrobatische Bewegungen zu beherrschen, nur Schmerz und Frust für mich bereit. Ich käme in den Widerspruch zwischen dem Wunsch, etwas zu können, und dem Vermögen meiner Psyche, die notwendigen Voraussetzungen mitzubringen. Würde ich meinen alten Glaubenssatz nicht verändern, würde meine Psyche neue Glaubenssätze ausbilden, um diesen Widerspruch aufzulösen. Ich würde vielleicht diesen Wunsch verleugnen und abtun oder mich als untalentiert und unfähig betrachten. Ich kann die neue Bewegungspraktik nicht erfolgreich in mein Leben integrieren, wenn ich mich nicht selbst verändere.
Neben meiner Einstellung zu Schmerz musste ich auch meine Ansichten über Zahlen ändern. Während ich vorher lediglich auf eine korrekte Bewegungsausführung geachtet habe, musste ich jetzt lernen, dass auch eine Verbesserung der Bewegungsqualität selbst Fortschritt bedeutet. Das konnte ich bei anderen so sehen, ich selbst hatte jedoch den Anspruch, dass ich beständig mehr Wiederholungen, mehr Gewicht und Anstrengung (Schmerz) schaffte. Ich musste lernen, dass es auch Fortschritt ist, wenn ich das Gleiche mit weniger Anstrengung machen konnte.
Um von Bewegungskapazitäten wie Kraft und Ausdauer als Ziel zu Bewegungskomplexität zu wechseln, musste ich ein neues Verhältnis zu Schmerz und Zahl entwickeln.
Bewegung, die dich inspiriert
Ein Bizepscurl ist für mich nichts weiter als eine langweilige, eingelenkige Übung. Für einen Bodybuilder dagegen kann es ein wichtiges Werkzeug in der Toolbox sein. Ein Bizepstraining kann einen Lebenwandel und eine Einstellung transportieren und auf diese Weise hochinspirierend sein.
Was ist Bewegung, die dich inspiriert? Was ist Bewegung, die ausdrückt, was dich bewegt? Diese Überlegungen führen dich nicht nur in großen Schritten zu Gesundheit, Robustheit und Fitness, sie führen dich auch zu dir selbst.