Selbstwert II - Serotonin und Status

Selbstwert entsteht erst dann, wenn wir gute Gründe haben, uns selbst als wertvolle Menschen einzuschätzen. Schlechte Gründe reichen nicht. Noch viel schlimmer ist die kränkliche Behauptung, man brauche überhaupt keine Gründe, um sich wertvoll zu fühlen, man solle sich bedingungslos selbst lieben. Liebe wird durch Liebenswürdigkeit verdient und Selbstwert muss sich ebenfalls erarbeitet werden.

Wenn wir uns fragen, wie Selbstwert entsteht, haben wir eine erstaunlich anachronistische Herangehensweise. Die meisten Überlegungen ignorieren, dass Selbstwert nicht nur im Hier und Jetzt existiert. Er ist im Laufe der Milliarden Jahre der Evolution entstanden. Diesen Fehler wollen wir nicht machen. Fragen wir uns, wie etwas entsteht, können wir dies aus zwei Richtungen machen:

  1. Wir können eine kurzfristige Perspektive einnehmen. Dann fragen wir uns, wie der Selbstwert eines einzelnen Menschen in der Gegenwart entsteht.
  2. Wir können eine langfristige Perspektive einnehmen. Dann fragen wir uns, wie es gekommen ist, dass Menschen überhaupt so etwas wie Selbstwert haben.

Das ist der Frage nach der guten Ernährung nicht unähnlich. Auch hier sind zwei Aspekte wichtig:

  1. Wir wollen wissen, welche Ernährung für uns im Hier und Jetzt gesund und richtig ist. Dazu ziehen wir Biochemie und andere Naturwissenschaften zu Rate.
  2. Wir können jedoch nur vernünftig über eine gute Ernährung nachdenken, wenn wir sie im evolutionär-geschichtlichen Zusammenhang betrachten.

Alles ist einmal entstanden.

Die Steinzeiternährung ist gründet sich auf unsere Vergangenheit als Jäger und Sammler. Der Name ist irreführend, weil nicht nur die Menschheitsgeschichte seit der Steinzeit relevant ist. Das Konzept des intermittierenden Fastens ist sogar noch wesentlich älter als die Steinzeiternährung. Es basiert im Wesentlichen auf dem Zusammenspiel von Anabolismus und Katabolismus.

Verlassen wir das Thema Ernährung, dann sind Temperatur und Sonnenlicht vielleicht die ältesten Selektionsfaktoren für unsere Evolution. Je länger etwas als Selektionsfaktor wirkt, desto stärker sind wir daran angepasst. Dabei kümmert es uns nicht, ob wir diese Geschichte als Menschen mitgemacht haben. Unsere Wirbelsäule ist Produkt unserer aquatischen Geschichte. Ja, wir waren auch mal Fische. Deswegen hat unsere Wirbelsäule einen bestimmten Bedarf nach Bewegung, der nicht durch langes Sitzen oder schweres Kreuzheben gedeckt wird.

Betrachten wir also erstmal die evolutionäre Geschichte des Selbstwerts, damit wir eine vernünftige Idee davon gewinnen, was eigentlich dieser Selbstwert überhaupt ist. Mutter Natur ist streng. Alles, was nicht nützlich ist, muss sterben. Das gilt nicht nur für Individuen. Es gilt auch für Eigenschaften oder auch ganze Gattungen. Warum haben wir Menschen also überhaupt so etwas wie Selbstwert?

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Die Anfänge des Selbstwerts - Dominanz

Der Grund dafür, dass wir einen Selbstwert haben, ist sehr alt. Seit mindestens 350 Millionen Jahren versuchen territoriale Lebewesen auszuhandeln, wer den sichersten Platz und die besten Jagdgründe kriegt.1 Dabei geht es um eine einzige Frage: Wer soll sich fortpflanzen?2

Männliche Hummer kämpfen um die besten Plätze, während die weiblichen Hummer ihre potentiellen Partner nach diesen Plätzen auswählen. Dabei eskalieren sie in wohldefinierten Schritten:3

  1. Imponieren und Abschätzen. Die Hummer machen sich groß und breiten ihre Scheren aus. Dabei vergleichen sie ihre Größe mit der des anderen. Wenn an dieser Stelle noch keiner aufgibt, geht es weiter zur nächsten Stufe.
  2. Antesten und Antennenschläge. Nun beginnt das Spiel ernster zu werden. Sie schlagen einander mit den Antennen und beginnen abwechselnd nach vorne zu stürmen, während der andere zurückweicht.
  3. Ringen. Nun beginnen die Hummer zu ringen und testen ihre tatsächliche Kraft und Masse. Sie versuchen sich gegenseitig zu ziehen, zu drücken und im Bestfall (für den Gewinner) auf den Rücken zu drehen.
  4. Echter Kampf. Wenn immer noch keiner aufgegeben hat, beginnt der ernste Kampf. Sie greifen nach exponierten Körperteilen und versuchen diese abzureißen. Hier entscheidet der echte körperliche Schaden, ob einer flieht oder nicht.

Dem siegreichen Hummer winkt nicht nur das begehrte Territorium. Sein Nervensystem wird mit Serotonin geflutet. Das fühlt sich nicht nur gut an. Für ihn bedeutet es auch, dass seine negativen Emotionen besser reguliert werden. In nachfolgenden Kämpfen ist er bereit länger zu kämpfen und ist nicht so leicht einzuschüchtern.4

Wir können sagen, dass er selbstsicherer ist. Dafür hat er gute Gründe. Schließlich hat er gewonnen. Dieser Sieg wird als Erfahrung in seinen Serotoninhaushalt eingespeichert. Wir können sogar soweit gehen und sagen, dass sein Serotoninhaushalt die biochemische Substanz seines Selbstwerts ist. Ein Hummer mit einem hohen Selbstwert lässt sich nicht so leicht einschüchtern oder zur Aufgabe zu zwingen -- ganz so wie bei uns Menschen. Wir können sagen, dass der Selbstwert eines Hummers durch seine Dominanz entsteht. Diese Dominanz ist direkt in seinen Serotoninspiegel eingespeichert.

Doch der Selbstwert befindet sich nicht im einzelnen Hummer. Er liegt im Vergleich seiner emotionalen Stabilität zu anderen Hummern. Der Selbstwert ist ein Teil eines kollektiven Gedächtnis. Als einzelner Hummer engagiert man sich in Kämpfen und lädt quasi aus dem gemeinsamen Speicher der Art herunter, wie groß sein Selbstwert ist.

Bei Hummern ist der Selbstwert noch identisch mit seiner Dominanz. Seinen Selbstwert kann sich der Hummer nur erlangen, wenn er sich gegen anderen im Kampf durchsetzt.

Das Wichtige dabei ist, dass sich der Nutzen für die Art und für das Individuum hinreichend decken. Jeder einzelne Hummer agiert natürlich so, wie es für ihn ganz individuell am Besten ist. Er verliert seinen Selbstwert bei einer Niederlage nicht, um den erfolgreichen Männchen aus dem Weg zu gehen. Ein männlicher Hummer, der beständig verliert, hat keine guten Gründe den Kampf zu suchen. Er ist zu schwach und würde dauernd verletzt werden. Ebenso ist die stark ritualisierte Reihenfolge der Eskalationsstufen nicht etwa ein Schutzmechanismus für Hummer, damit sie sich nicht gegenseitig in Stücke reißen. Sie ist eine kluge Strategie, für jeden einzelnen Hummer. Es ist klüger erstmal zu testen, ob man den Kampf durch Einschüchterung des Gegenübers gewinnen kann, bevor man Verletzungen riskiert.

All diese Dinge entstehen durch den individuellen Selektionsvorteil. Einzelne Hummer vermehren sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, wenn sie klug agieren. Was ist klug? Das hat sich über die Jahrmillionen Jahre gezeigt. Es entsteht eine Co-Evolution von Individuum und Art. Durch eine funktionierende Dominanzhierarchie erhält eine Art einen Selektionsvorteil gegenüber einer anderen Art. Das Individuum passt sich an die artinternen Regeln an und aktualisiert die artinternen Regeln. Ich wiederhole: Die Anfänge des Selbstwerts sind nur zu verstehen, wenn man den doppelten Vorteil versteht. Er ist gut für das Individuum, aber auch für die Art.

Das können wir leicht verstehen, wenn wir uns eine Gruppenarbeit in der Schule als Beispiel wählen. Jeder kennt die Mitläufer von Gruppenarbeiten. Sie sagen wenig und stören so wenig, dass sie nicht aus der Gruppe ausgeschlossen werden. Am Ende genießen sie die Note der Gruppe, die besser ist, als eine Note, die sie sich selbst erarbeitet hätten.

Nehmen wir an, dass diese Gruppen sich gegen andere Gruppen in einem Wettkampf durchsetzen müssen. Eine Gruppe kann sich nicht viele von solchen Trittbrettfahrern leisten, ohne ins Hintertreffen zu geraten. Sie braucht produktive Mitglieder. Eine Gruppe kann es sich aber auch nicht leisten, die individuellen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder zu ignorieren. Das würde zu keiner stabilen Gruppe führen und die Gruppe kann sich ebenfalls nicht durchsetzen. Schließlich gehört auch der individuelle Vorteil zur Motivation des Einzelnen sich in der Gruppe zu engagieren.

Doch auch der Kompromiss ist nicht die beste Lösung. Der Kompromiss würde dazu führen, dass das Individuum gerade so viel in die Gruppenleistung investiert, dass die Gruppe erhalten wird, während die Gruppe dem Individuum gerade so viel Eigeninteresse gewährt, dass es nicht die Gruppe verlässt. Wesentlich besser ist eine Win-Win-Situation zwischen Individuum und Gruppe. Eine Gruppe, die so strukturiert ist, dass die Individuen ihr eigenes Interesse auf eine Weise voll ausschöpfen können, dass ihre Leistungen voll mit den Zielen der Gruppe übereinstimmen, wäre sehr viel leistungsfähiger als die Kompromissgruppe. Sie könnte als Gruppe voll in ihrem eigenen Interesse agieren, während die Individuen gleichzeitig voll in ihrem eigenen Interesse agieren können.

Die Abweichungen von diesem Optimum hängen dann wiederum davon ab, inwiefern die Gruppen untereinander im Wettstreit stehen. Stehen die Gruppen in einem schwachen Wettstreit miteinander, gibt es Toleranz für schlechte Ergebnisse. Die Gruppe kann es sich erlauben, ein klein wenig tyrannisch organisiert zu sein. Das Individuum kann es sich erlauben, seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Gruppe auszuleben.

Wer dieses Thema vertiefen möchte, sei auf das Konzept der Multilevel-Selektion verwiesen. Kehren wir zum Selbstwert zurück.

Selbstwert entwickelt sich - Status erfordert Kooperation

Natürlich sind wir keine Hummer und es wäre absurd einfach anzunehmen, dass unser Selbstwert auf die gleiche Weise entsteht wie bei Hummern. Selbstwert ist eine Lösung für ein soziales Problem. Unser Sozialleben ist weitaus komplizierter als das Sozialleben eines Hummers. Parallel zur Komplexität unseres Soziallebens hat sich notwendigerweise auch das Wesen des Selbstwerts entwickelt.

Schon bei Ratten muss die stärkere Ratte die Schwächere mal gewinnen lassen. Sonst hört die schwächere Ratte auf zu spielen.5 Doch auch bei Affen führt ein künstlich erhöhter Serotoninspiegel nicht direkt zu einer erhöhten Dominanz. Zuerst beginnen die Affen damit, sich Allianzen zu schaffen, indem sie mit anderen Affen kooperieren, bevor sie ranghöhere Männchen herausfordern.6 Dominante Schimpansen belohnen ihre Bündnispartner im Kampf um die Spitze, indem sie ihnen kleine Affären mit Schimpansinnen gewähren, was sie gegenüber anderen Männchen nicht machen würden.7

Den gleichen Zusammenhang finden wir beim Menschen auch. Erhöht man bei gesunden Menschen künstlich den Serotoninspiegel zeigen sie sowohl dominanteres Verhalten als auch kooperatives Verhalten.8 Statushöhere Menschen verhalten sich kooperativer als statusniedrigere Menschen.

Was heißt es genau zu kooperieren? Kooperation heißt Win-Win-Situationen herzustellen. Die dominanten Ratten lassen die unterwürfigen Ratten auch mal gewinnen, damit sie weiterhin beim Spiel gewinnen können. Würden sie die schwächeren Ratten immer niederdrücken, würden diese aufhören zu spielen. Niemand würde mehr gewinnen. Eine stabile Ordnung in einer Affenhorde ist nur möglich, wenn sie zusammenarbeiten. Ansonsten würden sie sich im dauerhaften Bürgerkrieg befinden. Altruismus hat eine Geschichte. Sie fängt mit purer Dominanz an und mündet darin, dass Kooperation notwendig dafür ist, das Problem komplexer werdender Sozialität zu lösen.

Altruismus für Selbstwert

Wenn wir beurteilen, wie gut Entscheidungen sind, sollten wir den zeitlichen Aspekt berücksichtigen. Gute Entscheidungen sind nicht nur gut für den nächsten Moment, sondern auch gut für den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat, den Rest des Lebens und darüber hinaus. Doch auch die soziale Komponente ist entscheidend für die Güte unserer Entscheidungen: Gute Entscheidungen sind gut für uns, für unsere Familie, für unsere Gemeinschaft und unsere Gesellschaft. Im Beitrag Kleine Entscheidungen sind große Entscheidungen habe ich das zunächst schwach begründet: Egozentrik sei einer der wichtigen Gründe für den schwachen Selbstwert in der heutigen Kultur. Jetzt sehen wir die verhaltensbiologischen Gründe dafür, wie unsere moderne Kultur der Egozentrik dazu führt, dass unser Selbstwert immer schwächer wird. Wir leben immer mehr in einer Lebenswelt, die sich nur um uns dreht. Durch die Propaganda des gesunden Egoismus schneiden wir uns von einer wichtigen Quelle von Selbstwert ab.

Sehen wir uns den Begriff Gesunder Egoismus an. Das ist einer der gängigsten Ratschlägen, um das eigene Leben zu verbessern. Vor dem Hintergrund der evolutionär-biologischen Grundlagen des Selbstwerts entlarvt sich dieser Ratschlag selbst: Er verkauft das Verhalten eines Menschen mit schwachem Selbstwert als gesund. Nur ein Mensch mit schwachem Selbstwert glaubt, dass die Lösung für sein Selbstwert egoistisches Verhalten ist. Verfolgt man einen solchen Ratschlag blendet man den notwendigen Wert von Altruismus für den eigenen Wert aus. Gesunder Egoismus, diese Idee wird alle Jahre wieder als Sau durch jedes Dorf getrieben. Darin zeigt sich, dass wir das Problem unseres schwachen Selbstwerts nach wie vor nicht gelöst haben und schlimmer noch: Es zeigt, dass wir nicht verstanden haben, wie man das Problem löst und schlimmer noch: Wir glauben, die Lösung zu kennen, während wir das Problem eigentlich nur noch verstärken.

Serotonin und Lebenswandel

Unser Selbstwert fußt genauso wie alles auf einer evolutionären Geschichte auf und damit auch einer biologischen Substanz. Doch die biologische Substanz besteht nicht zwangsläufig aus Molekülen. Die biologische Substanz des Selbstwerts ist eigentlich nicht das Serotonin selbst. Vielmehr ist es das Muster, in der die persönliche Frage des Selbstwerts in die Welt des Sozialen ausgelagert wird. Im Serotoninspiegel ist unser persönlicher Umgang mit dieser Substanz gespiegelt. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Wenn wir annehmen, dass wir bloß Serotonin brauchen, um uns besser zu fühlen, wieso nicht einfach den Serotoninspiegel (bio-)hacken? Wir essen Abends Kohlenhydrate, supplementieren Tryptophan und Vitamin B6. Fühlen wir uns nicht besser, wenn wir unseren Serotoninspiegel nicht einfach erhöhen? Warum sollten wir etwas in unserem Leben verändern, wenn das Problem einfach an einem niedrigen Serotoninspiegel liegt?9 Ich sage: Nein.

Zunächst einmal ist das niedrige Serotonin und das entsprechende Lebensgefühl eine wichtige Rückmeldung für dein Leben. Du befindest dich an einem Ort, der höchstwahrscheinlich nicht gut für dich ist. Er ist gefährlich. Deine erhöhte Nervosität und starke Reaktion auf potentielle Stressoren ist richtig und wichtig. Du hast Problem und musst dich um diese Probleme kümmern:

  • Kannst du kompetent mit anderen Menschen umgehen? Kannst du mit dem jeweils anderen Geschlecht umgehen? Kannst du auf eine Frau zugehen, ohne dir in die Hosen zu machen? Kannst du einen Mann dazu einladen, auf dich zuzugehen?
  • Hast du einen Lebensplan? Oder treibst du ziel- und orientierungslos durch Leben?
  • Hast du einen gesunden und starken Körper?

Ein voll entwickelter Mensch kennt den Sinn des Lebens. Er kennt seine Identität, weiß wo er steht und wo er hinwill. Er ist kompetent und weiß, was zu tun ist. Und er tut es. Man muss sich seinen Serotoninspiegel verdienen.

Der Versuch künstlich sein Serotonin zu erhöhen ist funktional nichts weiter als der Versuch seinen persönlichen Schmerz in Alkohol zu ertränken. Anstatt die Ursache des Problems anzugehen, fummelt man am Symptom herum. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Kurzfristige Erleichterung und eine langfristige Katastrophe.

Darüber hinaus wird dein Körper dich dafür abstrafen, wenn du versuchst ihn auszutricksen. Ich rede nicht davon, dass ein akuter Vitaminmangel nicht ausgeglichen werden sollte. Aber der Vitaminmangel ist wahrscheinlich nicht die Ursache dafür, dass du dich nicht als eine wertvollen Menschen siehst, wenn du dein Leben so gestaltest, dass du keinen Wert hervorbringst.

Ein guter Lebenswandel führt zu einem guten Selbstwert. Das ist ein Grund für einige Abschnitte im Buch Lebenswandel:

  1. Was sind die Eigenschaften einer guten Karriere?
  2. Bewegung, die dich inspiriert.
  3. Selbstvertrauen beim Fasten.
  4. Guter Schmerz ist gut.
  5. Nicht zuletzt: Das Prinzip der bedingungslosen Verantwortung.

Wir sind das, was wir immer wieder machen. Unsere Gewohnheiten schleifen sich tief in uns ein bis sie unser Charakter werden. Selbstwert muss sich aus einer Substanz in der Realität formen. Er kann man nicht durch eine geistige Übung erlangen, sondern muss in täglichen Handlungen verkörpert werden. Selbstwert kann nicht außerhalb des Lebenswandels gedacht werden, denn der Lebenswandel ist die Art wie wir im Leben wandeln. Tun wir dies nicht, wie ein Mensch, der einen hohen Selbstwert hat, haben wir einen schlechten Selbstwert.

Wenn wir uns fragen, ob wir wertvoll sind, also nach unserem Selbstwert fragen, haben wir Gründe für unsere Antwort. Wir denken beispielsweise:

  • Ich bin wertvoll, weil jeder Mensch wertvoll ist.
  • Ich bin wertvoll, weil ich der beste World of Warcraft Spieler bin.
  • Ich bin wertvoll, weil ich stark bin.
  • Ich bin wertvoll, weil ich einen gut bezahlten Job habe.
  • Ich bin wertvoll, weil ich heute Abend von vier Männern angegraben wurde.

In diesen Gründen finden wir die Substanz, aus der unser Selbstwert geformt wurde. Die Qualität dieser Substanz bestimmt auch die Qualität unseres Selbstwerts. Ist dieser aus Vergänglichkeiten geformt, ist auch unser Selbstwert vergänglich.

Begründe ich meinen Selbstwert darin, dass ich stark oder schön bin, wird mein Selbstwert durch das Altern leiden. Die Zeit gewinnt immer und der Selbstwert höhlt aus, bis er brökelt und zerbricht. Begründe ich meinen Selbstwert darin, dass ich viel Geld verdiene, Statussymbole besitze oder viel Macht besitze, laufe ich Gefahr, dass ich den Blick für andere Teile des Lebens verliere. Ich bin vielleicht ein verhasster Mensch oder besitze viel, aber nichts, das mir ein tiefes Gefühl von Bedeutsamkeit vermittelt. Begründe ich meinen Selbstwert darin, dass ich ein super Computerspieler bin, spalte ich meine Welt auf. Ich lebe mit einem Bein in der virtuellen Welt, in der ich ein wertvoller und angesehener Mensch bin, und mit dem anderen Bein in der echten Welt, in der ich und meine virtuellen Leistungen nichts zählen.

Der Selbstwert erbt die Eigenschaften der Substanz, aus der er geformt wird.

Ein Zusammenspiel von Dominanz und Kooperation

Nun habe ich Selbstwert und Kooperation zusammengebracht, während ich auf den schwierigeren Aspekt, Selbstwert durch Dominanz, vernachlässigt habe. Dem liegt eine narrative Strategie zu Grunde: Ich nenne die sinnvollere Lösung zuerst.

Man kann sich ein Gefühl von Selbstwert durch Dominanz erlangen. Man kann beispielsweise seinen gegenüber niederbrüllen, wenn man sich mit ihm in einer Auseinandersetzung befindet. Anstatt zu kooperieren, setzt man seinen Willen durch, auch wenn es zum Nachteil des Gegenübers ist. Doch sich wie ein Arschloch zu verhalten, ist auch für das Arschloch selbst ein Problem. Selbstwert erbt die Eigenschaften der Substanz, aus der er geformt wird. Ständiger Konflikt äußert sich in hohen Cortisolwerten.101112 Darüber hinaus führt eine Dominanzstrategie gegenüber einer kooperativen Strategie dazu, dass man weniger gemocht wird.13 Die Welt wird zu einem feindseligen Ort.

Es ist nicht sinnvoll sich seinen Selbstwert wie ein Hummer ausschließlich durch Dominanz über andere zu erarbeiten. Viel sinnvoller ist, sich gemeinsam einen hohen Selbstwert zu erarbeiten -- selbst in rein egoistisch-zweckrationalen Sinne. Die kooperative Strategie des Selbstwerts besteht aus zwei Schritten. Wir entwickeln uns selbst, um uns zu einer wirksamen Kraft auf der Erde formen. Wir erarbeiten uns einen guten Lebenswandel, behandeln uns selbst wie wertvolle Menschen. Das macht uns kompetent. Wir können was. Mit diesem Fähigkeiten und Fertigkeiten suchen wir ein Miteinander mit anderen Menschen. Wir suchen nach Möglichkeiten, wie wir das Leben anderer Menschen besser machen können. So löst sich der Konflikt von Egoismus und Altruismus. In einem guten Leben gibt es keinen Unterschied zwischen diesen beiden Elementen.

Zwischenstand

Das Prinzip der bedingungslosen Verantwortung ist ein zweischneidiges Schwert. Man kann nicht mehr mit dem Finger auf andere zeigen. Das heißt nichts weiter, dass man sich dazu entschließt erwachsen zu werden. Dafür aber beginnt man sich selbst als Ursache seines Lebens zu verstehen. Man kann sich nicht mehr als Spielball der Welt sehen, sondern gestaltet seine persönliche Lebenswelt selbst. Das ist eine wichtige Voraussetzung für den Selbstwert.

Hat man die bedingungslose Verantwortung übernommen, trifft man gute Entscheidungen für sich. Man hört auf, auf Kosten seines zukünftigen Selbst zu leben. Das ist eine Übung in Altruismus, denn noch sind wir nicht dieses zukünftige Selbst. Es ist eine andere Person, für die wir sorgen und Verantwortung übernehmen. Man behandelt sich selbst wie ein liebenswürdige Person und ermöglicht sich damit ein Gefühl der Selbstliebe. Der Übungscharakter ist wichtig. Man kann nicht einfach so annehmen, dass man bereits weiß, wie es ist, für sich zu sorgen. Übe dich darin, gut für dich selbst zu sorgen. Lerne aufmerksam, was das heißt. Wie überprüft man das? Man denkt über das nach, was man bisher gemacht hat. War dort ein vergangenes Selbst, dass für dich gesorgt hat?

Doch das Leben dreht sich nicht nur um einen Selbst. Gute Entscheidungen sind nicht nur gut für uns. Sie sind gut für unsere Familie, unsere Gemeinschaft und unsere Gesellschaft. Haben wir gelernt, uns selbst zu behandeln wie einen liebenswürdigen Menschen, können wir dies auf andere Menschen anwenden. Wir können aufhören, ein Leben zu führen, das sich nur um uns selbst dreht. Unser Status hängt auf grundlegend neurochemischer Ebene davon ab, ob wir mit anderen kooperieren, für andere Menschen da sind. Egoismus ist niemals gesund, sondern Krankheitssymptom von Menschen, die sich selbst für wertlos halten.

Das Leben ist kein sinn- und bedeutungsloser Haufen von Molekülen. Es ist auch keine Achterbahnfahrt, die nur dazu dient, dass sie uns selbst Spaß macht. Wer sich für dieses Leben entscheidet, der entscheidet sich dafür, nutzlos zu bleiben.

Aber wenn man will, ist das Leben wichtig und bedeutsam. Die oben genannten Schritte bauen nicht zufällig aufeinander auf. Sie orientieren sich an der Sinn- und Bedeutungsstruktur des menschlichen Lebens selbst. Es gibt Aufgaben und Herausforderung in unserem Leben, die ein jeder von uns zu bewältigen hat. Wir sind alle Menschen. Ja, wir sind verschieden, aber wir ähneln uns mehr, als dass wir uns voneinander unterscheiden. Sonst wären wir nicht alle Menschen. Es gibt eine logische Reihenfolge, die diesen Aufgaben zugrunde liegt. Wir lernen erst zu krabbeln, bevor wir gehen.14 Das ist einer der wichtigen Erkenntnisse, die Covey in seinem berühmten Buch 7 Habits for Highly Effective People anbietet.

Im Alltag stellen sich einfache und triviale Fragen des Lebens. Essen wir Getreide oder nicht? Lieber drei Mal pro Woche Krafttraining und zwei Mal pro Woche Ausdauer oder vielleicht ein anderes Verhältnis? Was ist die optimale Meditationsmethode für mich? Wie kann ich meine Morgenroutine verbessern? Wie kann ich abnehmen, wie Muskeln aufbauen? Kann ich meine Darmflora aufbauen? Ist es ok, wenn ich beim Abendessen noch eine Folge Game of Thrones ansehe, wenn ich f.lux installiert habe? Oder sollte ich mich nicht lieber voll auf das Essen konzentrieren?

All diese Fragen haben eine Doppelnatur, die wir ernst nehmen sollten. An und für sich genommen sind die Fragen belanglos. Lose umherschwirrende Kleinigkeiten, solange unsere Lebenswelt nur aus unzusammenhängenden Molekülen besteht. Doch ihnen liegt die Bedeutungsstruktur zu Grunde, auf die wir zugreifen können, wenn wir solche Fragen auf eine bestimmte Weise angehen.

Was ist, wenn all diese kleinen Fragen nicht unwichtig sind? Was ist, wenn sie kleine Fingerzeige auf etwas sind, das wichtig und bedeutsam ist? Wie willst du deinen Körper trainieren? Lieber Bodybuilding, lieber Crossfit oder allgemeines Bewegungstraining? Du kannst nach Spaß, Lust und Laune entscheiden. Du kannst diese Entscheidung aber auch ernst nehmen und anerkennen, dass die Art deiner Bewegungspraktik deine Art zu leben widerspiegelt. Was ist dein Art zu leben? Willst du ein Leben mit Sinn und Bedeutung oder ein Leben in Nihilismus und sinnlosem Hedonismus? Man kann nicht erwarten, dass man einen hohen Selbstwert hat, sich selbst für wertvoll hält, wenn man sich selbst nicht ernst nimmt. Triffst du diese kleinen Entscheiden so, als wären sie große Entscheidungen, sind es große Entscheidungen. Wenn du dein Leben behandelst, als sei es bedeutsam und wichtig, wird es das.


  1. Heather D Bracken-Grissom, Shane T Ahyong, Richard D Wilkinson, Rodney M Feldmann, Carrie E Schweitzer, Jesse W Breinholt, Matthew Bendall, Ferran Palero, Tin-Yam Chan, Darryl L Felder, Rafael Robles, Ka-Hou Chu, Ling-Ming Tsang, Dohyup Kim, Joel W Martin, and Keith A Crandall (2014): The emergence of lobsters: phylogenetic relationships, morphological evolution and divergence time comparisons of an ancient group (decapoda: achelata, astacidea, glypheidea, polychelida), Syst Biol 4, 2014, Vol. 63, S. 457-79. 

  2. Die Überlegungen basieren auf dem ersten Kapitel von Jordan Peterson Buch 12 Rules for Live 

  3. R Huber and E A Kravitz (1995): A quantitative analysis of agonistic behavior in juvenile American lobsters (Homarus americanus L.), Brain Behav Evol 2, 1995, Vol. 46, S. 72-83. 

  4. B L. Antonsen and Dorothy Paul (1997): Serotonin and octopamine elicit stereotypical agonistic behaviors in the squat lobster Munida quadrispina (Anomura, Galatheidae), , 1997, Vol. 181, S. 501-510. 

  5. Jaak Panksepp and William W. Beatty (1980): Social deprivation and play in rats, Behavioral and Neural Biology 2, 1980, Vol. 30, S. 197 - 206. 

  6. Ania Ziomkiewicz-Wichary (2016): Serotonin and Dominance, Cham: Springer International Publishing. 

  7. Kimberly G Duffy, Richard W Wrangham, and Joan B Silk (2007): Male chimpanzees exchange political support for mating opportunities, Curr Biol 15, 2007, Vol. 17, S. R586-7. 

  8. Wai S. Tse and Alyson J. Bond (2002): Serotonergic intervention affects both social dominance and affiliative behaviour, Psychopharmacology 3, 2002, Vol. 161, S. 324--330. 

  9. Selbstverständlich wollen wir nicht, dass ein Mangel an Vitamin B6 vorliegt. Ich will lediglich auf einen Versuch hinaus, in das System einzugreifen. 

  10. P W Czoty, R W Gould, and M A Nader (2009): Relationship between social rank and cortisol and testosterone concentrations in male cynomolgus monkeys (Macaca fascicularis), J Neuroendocrinol 1, 2009, Vol. 21, S. 68-76. 

  11. Laurence R Gesquiere, Niki H Learn, M Carolina M Simao, Patrick O Onyango, Susan C Alberts, and Jeanne Altmann (2011): Life at the top: rank and stress in wild male baboons, Science 6040, 2011, Vol. 333, S. 357-60. 

  12. Martin N. Muller and Richard W. Wrangham (2004): Dominance, cortisol and stress in wild chimpanzees (Pan troglodytes schweinfurthii), Behavioral Ecology and Sociobiology 4, 2004, Vol. 55, S. 332--340. 

  13. Joey T Cheng, Jessica L Tracy, Tom Foulsham, Alan Kingstone, and Joseph Henrich (2013): Two ways to the top: evidence that dominance and prestige are distinct yet viable avenues to social rank and influence, J Pers Soc Psychol 1, 2013, Vol. 104, S. 103-25. 

  14. Stephen R. Covey (2004 (Erstauflage: 1989)): The 7 Habits of Highly Effective People, London: Pocket Books, S.34.