Steinzeiternährung - Geschichte oder Technologie?

Zusammenfassung: Es gibt zwei typische Definitionen der Steinzeiternährung. Essen, was es früher gab. Essen, was man jagen und sammeln muss. Wenn man die Definition richtig wählt, weitet man seinen Blick für mehr Zusammenhänge als bloß die der Steinzeit.

Steinzeiternährung oder nicht?

Ich verwende die Steinzeiternährung als einen einfachen Begriff um die ersten Schritte in einer Ernährungsumstellung zu bestimmen. Der Begriff hat seine Schwächen und ich verwende diesen Begriff als geflügeltes Wort, wenn ich mit Menschen umgehe.

Was meine ich überhaupt, wenn ich von einer Steinzeiternährung rede?

Die historische Definition von Steinzeiternährung

Klassischer Weise wird die Steinzeiternährung mit der neolithischen Revolution abgegrenzt. Die neolitische Revolution meint den Übergang zu Sesshaftigkeit und Ackerbau. "Paleo"1 ist all das, was unsere steinzeitlichen Vorfahren gegessen haben. Alles andere ist nicht Teil der Ernährung.

Diese Definition hat große Schwächen. Wir definieren hier eine Ernährungsform über ein historisch-kulturelles Ereignis in unserer Geschichte als Menschen. Damit wählen wir einen Definitionskontext, der überhaupt nichts mit unserem Anliegen zu tun hat.

Unser Anliegen ist nicht eine Steinzeiternährung historisch zu erforschen. Wenngleich die vergangene Ernährungsweise Material für unsere Überlegungen liefert, drückt sie die Richtung der Erkenntnis in eine falsche Richtung. Uns interessiert die Steinzeiternährung nicht als Selbstzweck.

Was uns interessiert ist die gute Ernährung! Wir unterstellen erstmal, dass die Steinzeiternährung gesünder ist, als die Pizza aber auch als das morgendliche Müsli.

Aus dieser historischen Definition erwachsen viele fehlgeleiteten Debatten im Web 2.0. Da wird darüber debattiert, ob nun Lebensmittel X paleo ist oder nicht. Die meisten bleiben dann dabei stehen. Wenn etwas unter diese Kategorie fällt, gilt es automatisch als gesund wird erlaubt. Was nicht paleo ist, ist automatisch ungesund.

Das ist ein grundsätzlich begriffliches Problem. Die Begriffe und wie wir sie sehen strukturieren unsere Realität und auch die Realität unserer Modelle und Theorien von der Welt. Wenn wir den Begriff der Steinzeiternährung auf der einen Seite historisch-kulturell definieren und auf der anderen Seite als die gesunde Ernährungsform sehen, haben wir ein Problem. Wir landen sehr zuverlässig bei einer sehr engstirnigen und unflexiblen Denkensweise. Alles, was wir damals nicht hatten, ist ungesund.

Die historisch-kulturelle Definition von Steinzeiternährung lenkt von unserem eigentlichen Interesse ab: Die gute Ernährung. Weil dieses Interesse trotzdem noch besteht, setzen viele die Steinzeiternährung mit der guten Ernährung gleich. Das kann schnell in einen Dogmatismus führen.

Die technologische Definition von Steinzeiternährung

Was ist das besondere an der Ernährung unserer steinzeitlichen Vorfahren? Sie mussten ihre Nahrung auf eine bestimmte Weise erarbeiten. Sie mussten jagen und sammeln. Das haben sie mit vielen Völkern noch heute gemeinsam.

Was macht diese Definition technologisch?

So definieren wir die Steinzeiternährung über die technischen Möglichkeiten der Nahrungsgewinnung. Ohne Kühlschrank, Supermarkt, Acker und Herde bleibt nur noch jagen und sammeln.

Warum ist diese Definition nützlicher?

Der erste Grund ist, dass es uns nun um ein bestimmtes Verhältnis zwischen Umwelt und Mensch geht. Das weitet den Blick. Wir sind nicht mehr dazu verleitet unbedingt die Steinzeit zu rekonstruieren, als wäre dort der heilige Gral der Ernährung versteckt. Wenn wir uns zum Beispiel fragen, was das besondere am Jagen und Sammeln ist, stellen wir fest: Es gibt noch viele andere Jäger und Sammler. Das sind nicht nur die Naturvölker. Alles tierische Leben muss auf körperliche Art und Weise seine Nahrung erarbeiten. Wir können so aus vielmehr Quellen schöpfen, weil unsere begriffliche Basis viel offener gestaltet ist.

Erst das macht geschickte Überlegungen möglich, wie sie zum Beispiel Jaminet/Jaminet in ihrer Perfect Health Diet anstellen.2 Sie vergleichen zum Beispiel die Makronährstoffverhältnisse der Nahrung verschiedener Säugetiere und stellen eine überraschende Ähnlichkeit fest.

Auch meine Überlegungen zum Hunger als Taktgeber des Tages sind durch eine grundsätzlichere Überlegung entstanden. Damals habe ich mir Gedanken dazu gemacht, was der zeitliche Zusammenhang von Energieaufnahme und Energieverbrauch in lebenden Systemen ist. Erst durch diese allgemeinen Überlegungen bin ich überhaupt darauf gekommen, mir Gedanken über den Effekt von Hunger und unseren mentalen Zustand zu machen.

Aus dieser Sicht auf die Steinzeiternährung ergibt sich auch die Forderung nach dem intermittierenden Fasten als integralem Bestandteil der Steinzeiternährung.

Diese Überlegungen schließen an die Frage an: Was ist artspezifisch für den Menschen? Gibt es Ernährungsregeln, die nicht nur für den Menschen gelten, sondern grundsätzlicher sind?

Das ist die Steinzeiternährung:

Die Steinzeiternährung ist eine der Ernährungformen, in welcher das gegessen wird, was man jagen und sammeln kann.

Mein Anliegen

Begriffe und Modelle formen und lenken unsere Erkenntnis. Es sind die Kategorien, die unser Denken formen. Ich lege großen Wert darauf, hier sorgfältig und strategisch überlegt vorzugehen.

Die Steinzeiternährung hat eine bestimmte Funktion im gesamten Konzept von Improved Eating. Die kann man nur verstehen, wenn man weiß, welchen Begriff ich davon habe und warum ich ihn so gewählt habe.

Auf der einen Seite will ich, dass jeder versteht, wie diese Funktion aussieht. Auf der anderen Seite will ich die Gelegenheit nutzen und offen legen, was hinter meinen Überlegungen steckt. Ich will nicht nur das Konzept vorstellen, ich will auch die Entstehungsweise illustrieren. Siehe dazu auch meine Widerlegung einiger Argumente gegen die Steinzeiternährung.

Praxisbezug

Wer kennt nicht die Debatten darum, was nun paleo ist und was nicht. Manche von uns rasten aus, weil der Gegenüber nicht verstehen will, dass dieses oder jenes nicht paleo sein kann. Andere dehnen den Begriff der Steinzeiternährung mit Hilfsbegriffen wie "primal"3 um sich irgendwie von dem Korsett einer strengen Definition zu befreien.

Erinnere dich daran, dass das Ziel ist sich gesund zu ernähren. Ob das nun paleo ist, spielt keine Rolle. Wenn du dich in Diskussion befindest, denk' immer daran: Es geht darum, ob etwas gesund ist. Es geht nicht darum, ob was irgendwer vor 10000 Jahren gegessen hat.

Das klassische Bild vom Steinzeitmenschen ist der Mammut jagende Mann. So assoziiert man ein verklärte Bild mit dem Begriff der Steinzeiternährung. Keiner stellt sich Honigsammler im Zentralafrika oder Fischer am Mittelmeer vor. Erst recht denkt keiner an die nach Wurzeln grabende Steinzeitfrau. Es heißt jagen und sammeln (und fischen).

Fotos

Photo Credit: Lord Jim via Compfight cc


  1. Eigentlich heißt das "paläo" im Deutschen. Ich beuge mich hier der überwältigenden Übermacht des Internets und nehme das einfach als Anglizismus  

  2. Ich werde das Buch noch ausführlich für diesen Blog vorstellen. Wer sich jedoch für einen Ansatz interessiert, der weit über die üblichen Überlegungen der Steinzeiternährung hinausgeht, sei dieses Buch sehr zu empfehlen. 

  3. Für alle, die diese Definition nicht kennen: Mark Sisson hat diesen Begriff geprägt. Hier ([Link][201308211108]) seine Erklärung zur näheren Erläuterung.