Über Geduld und den Lebenswandel

Im Artikel What is Your Best Tipp for Beginners geben viele sehr fortgeschrittene Kraftsportler ihren besten Tipp für Anfänger preis.

Der häufigste Tipp ist: Geduld. Er kommt in verschiedenen Fassungen daher.

  • Genieße den Prozess!
  • Sei vorsichtig!
  • Arbeite an den Basics!
Lemur Meditation

In so ziemlich jeder Sportart findet man diesen Ratschlag, der von Erfahrenen weitergegeben wird. Beim Krafttraining versuche ich, eben dies weiterzugeben, indem ich eine einfache Rechnung vormache:

Nehmen wir an, du machst drei Mal pro Woche Kniebeuge und du steigerst dich nur alle drei Trainingseinheiten nur um 2,5kg. Dann hast du nach einem Jahr bei zwei Wochen Komplettpause 125kg mehr auf der Hantel, nach zwei Jahren 250kg und nach drei Jahren 375kg. Wenn du mit lediglich der Stange anfängst, hättest du in drei Jahren 395kg auf dem Rücken.

Wir können sehen, das sogar solch geringe Steigerungen innerhalb relativ kurzer Zeit unsere biologische Anpassungsfähigkeit ausreizen können. Krafttraining ist ein mittelfristiges Projekt, welches man durchführt, um in den nächsten drei bis fünf Jahren sein Potential zu entfalten.

Viele Menschen, mich mit eingeschlossen, steigern sich gerade in der Anfangszeit wesentlich schneller. Das ist erstmal kein Problem, weil wir anfangs bedeutend schnellere Trainingsanpassungen erfahren und daher auch deutlich schnellere Steigerungen vornehmen können. Die große Schwierigkeit ist dagegen, die innere Haltung zum Training pünktlich zu wechseln. Wenn man den Wechsel verpasst, verletzt man sich.

Ich stelle dies jetzt fest. Ich habe den Wechsel beinahe verpasst, in jedem Fall habe ich den Wechsel in Teilen verpasst. Für gewöhnlich habe ich mich nur sehr selten verletzt und mein Umfeld war immer erstaunt, wie schnell ich mich von den Verletzungen erholen kann. So habe ich auch acht Wochen nach einem Muskelbündelriss bereits Sprints auf dem Asphalt machen können.

Nun habe ich mit meiner (zu) ehrgeizigen und waghalsigen Einstellung auch noch das Turnen und Beweglichkeitstraining angefangen. Das Resultat: Handgelenk kaputt (Instabilität und Entzündung der Sehnenscheide vermute ich) durch zu schnelle Steigerung der Stützwaage und völlig überreizte Adduktoren durch viel zu intensives Spagat-Training.

Meine Lösung ist nun, dass ich die Toleranz gegenüber Abweichungen der Übungsausführung auf Null gesetzt habe. Das bedeutet, dass ich keine Kompensationen in der Position mehr zulasse. Sonst lasse ich mich von meinem Ehrgeiz treiben und gehe relativ stark an meine Grenzen. Das ist nur noch eine Option, wenn ich Ausdauer- oder Kraftausdauertraining mache.

Das heißt, dass ich meine kurzfristigen Ziele so setze, dass ich sie mit einer sehr hohen Sicherheit erreiche. Meine kurzfristigen Ziele erstrecken sich über die nächste Woche. Ich suche nur nach einer kleinen Steigerung und bin mittlerweile auch offen dafür, dass diese nur klein ausfällt oder ich lediglich die Qualität der Übungsausführung verbessere. Ich nehme mir nur noch Leistungen vor, welche ich mit Sicherheit schaffe.

Früher habe ich keine Rücksicht darauf genommen. Ich bin ständig an und über meine Grenzen gegangen. Ich habe keine Rücksicht darauf genommen, wie ich mich gefühlt habe. Ziemlich oft habe ich nicht nur meine körperlichen Grenzen ausgelotet, sondern habe auch häufig die Grenzen der Übungsqualität ausgelotet. Ich konnte noch auf die entsprechenden Steigerungen und Anpassungen hoffen, sodass ich bei der nächsten Trainingseinheit genug erholt war. Jetzt geht das nicht mehr.

Das liegt nicht daran, dass ich alt geworden bin. Es liegt schlicht und ergreifend daran, dass einen relativ hohen Trainingsstand habe und daher meinen Körper deutlich größeren Belastungen aussetze, wenn ich etwas mache. Steigerungen sind jetzt mit einer deutlich niedrigeren Toleranz gegenüber Fehlern verbunden verbunden.

Wenn ich jetzt nicht den Sprung schaffe, meine Einstellung zu ändern, meine Haltung zum Training anzupassen und vorsichtiger zu werden, lande ich dort, wo unglaublich viele der Leistungsgierigen landen: Verletzt auf der Ersatzbank.1

Was ist denn jetzt mit dem Lebenswandel?

Nach dieser kurzen Einleitung kommen wir ENDLICH zum eigentlichen Thema: Genau das Gleiche gilt für den Lebenswandel. Wir können nicht erwarten, dass wir uns schnell verändern können, wenn wir auf einem fortgeschrittenen Stand sind.

Das Problem des Lebenswandels ist, dass wir in den allermeisten Fällen bereits auf einem sehr hohen Trainingsstand sind. Es ist gewöhnlich, dass die meisten Menschen erst zwischen 18 und 22 Jahren sich überhaupt Gedanken darum machen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Damit meine ich nicht unbedingt die Berufswahl oder pubertäre Wünsche eines Ideallebens. In dem Alter haben wir uns bereits eine ganze Menge von Glaubenssätzen und Gewohnheiten angeeignet. Da gibt es wenig Toleranz, denn diese Glaubenssätze und Gewohnheiten stehen im engen Wirkungsgeflecht.

Sogar diesem zarten Alter ist es schwer seinen Lebenswandel tiefgreifend zu verändern, wie sollte es da erst mit 30 oder 40 sein? Wer da nicht die nötigen Werkzeuge an die Hand bekommen hat, hat es sehr schwer. Diese nötigen Werkzeuge werden heutzutage leider quasi überhaupt nicht vermittelt. Hier liegt der Erfolg eines gewohnheitenbasierten Ansatzes, wie etwa der von Precision Nutrition, denn sie bieten einen Teil dieser Werkzeuge an und sind bereit sehr kleinschrittig vorzugehen.

Einer der zentralen Gedanken, welcher sich an diese Überlegungen anschließt, ist das Problem der Nachhaltigkeit. Wenn du Veränderungen in deinem Lebenswandel vornimmst und ein dauerhaftes Ergebnis wünscht, dann solltest du bereit sein, diese Veränderungen dein Leben lang durchzuhalten.

Das klingt erstmal logisch, doch wirklich zu Ende gedacht und auf das eigene Leben angewendet, klingen viele Maßnahmen doch nicht mehr so verlockend:

  • Willst du das ganze Leben eine Sportroutine durchführen, welche dich nicht mit Freude oder Frieden erfüllt?
  • Willst du das ganze Leben eine Ernährungsform verfolgen, welche sich durch ständigen Widerspruch zu deinen Glaubenssätzen auszeichnet?
  • Willst du das ganze Leben einen Lebenswandel führen, welcher dich in terminliche Bedrängnis bringt?
  • Willst du dich das ganze Leben so verhalten, wie du es bei deinem “ersten guten Eindruck”, um den du dich beim ersten Kennenlernen bemüht hast?

Die Frage “Willst du das dein ganzes Leben machen?” sollte bei all deinen Bemühungen, deinen Lebenswandel zu gestalten, mitgeführt werden.

Wie ist das bei mir?

Ich greife der unweigerlichen Frage vorweg und versuche auch hier an meinem Beispiel zu zeigen, in welche Richtungen das gehen kann.

Es gibt immer zwei Schrauben, an welchen man drehen kann, will man die Spannung reduzieren. In unserem Falle haben wir es mit der Spannung zwischen einem Wunsch in uns und einem Sein in der Welt zu tun. Doch wir haben es mit dem Problem zu tun, dass sich immer andere Schrauben mitdrehen, wenn wir eigentlich nur eine bestimmte anfassen.

Eines der geläufigsten Beispiele ist der Verzicht. Eine gesunde Ernährung bedeutet für viele Menschen Verzicht. Das muss nicht bedeuten, dass es um einen täglichen Leidensdruck geht. Doch viele Menschen fühlen sich eingeengt, wenn sie ihren spontanen Gelüsten nicht folgen können. Sie wollen nicht unbedingt an ihrem Schummeltag ein Eis essen gehen, sondern unbedingt JETZT oder wollen sich die Freiheit lassen, spontan zu entscheiden.

Ich habe festgestellt, dass ich eine solche unklare Einigung mit mir selbst unerträglich finde. Es gibt einfach zu viele Probleme, welche man sich dadurch neu einfängt. Dazu bin ich nicht bereit.

Meine spontanen Gelüste sind für mich keine Boten den Genusses. Vielmehr sind es für mich Herausforderungen, welchen ich mich bereitwillig stelle, weil ich an ein Persönlichkeitsideal glaube, dass durch solche Herausforderung wächst. Das heißt, dass ich sehr gut damit leben kann, dass ich mit solchen Gelüsten konfrontiert werde. Während andere sagen, dass sie nicht ihr Leben lang auf etwas verzichten wollen, sage ich “ja” zu solchen unerfüllten Gelüsten. Doch bedeuten diese für mich kein Verzicht mehr. Es sind für mich willkommene Gelegenheiten, um meinen Charakter und meine Persönlichkeit zu trainieren. Ich nähere mich so meinem Ideal. Deswegen kann ich sagen, dass ich zwar Gelüste habe, aber keinen Verzicht empfinde. Ich sehe Herausforderung und Entwicklung.

Ich sehe in Spontanität auch keine Tugend. Ich halte das für eine sträfliche Umwertung von Wankelmut eines Lasters zur Scheintugend.2 Ich halte an meinen Plänen fest und wenn ich mir ein Vorhaben gesetzt habe, ändere ich es nicht. Meine Pläne sind langfristig. Ich will noch in 50 Jahren meine Bewegungspraktik aufrecht erhalten, ich will noch schreiben und meinen Arsch alleine abwischen. Ich habe meinen Blick fest auf eine Zukunft gerichtet, in welcher ich noch viele spannende Projekte abschließen will. Was kümmern mich da die Brötchen vom Bäcker oder das Eis im Sommer?

Das sind zwei Beispiele davon, wie ich mich selbst verändert habe, sodass mein Verhalten durchführbar wird. Ich bin ein sehr kopflastiger Mensch. Das heißt, dass ich sehr viel durch Einsicht und Überlegung funktioniere und so meine Verhaltenspräferenzen ändern kann.

Es gibt andere Typen. Menschen, die einen emotionalen Bezug brauchen oder auch bestimmte Dinge durch ständige Rituale einschleifen müssen. Die Umwertung und Neubetrachtung sind Wege, die auf sich alleingestellt schwer zu gehen sind, besonders, wenn man nicht dafür veranlagt ist, sonst würden beispielsweise weit weniger Menschen rauchen.

Die Veränderungen meiner Glaubenssätze und Ansichten sind wichtig, damit mein Lebenswandel auf Dauer durchführbar ist. Ich werde regelmäßig gefragt, ob ich mich ein Leben lang so ernähren will, jeden Tag zwei Mal Sport machen oder den ganzen Tag Schreiben und Arbeiten will. Das kann ich bejahen, weil ich die nötigen Schritte vorgenommen habe.

Um mich in diese Position zu bringen, habe ich mir einige Jahre (!) Zeit genommen. Es kam natürlich erschwerend dazu, dass ich diese Veränderungen auf eigene Faust und häufig gegen soziale Widerstände vorgenommen habe. Allerdings ist das der Zeitraum, auf welchem man sich einstellen sollte. Bei einigen Menschen geht es schneller und bei anderen langsamer. Auch dies sollte man akzeptieren. Das ist der Start einer jeden Reise. Man kann nicht mehr ausgeben, als man hat. Macht man es doch, ist es nur geborgt, man muss es zurückzahlen oder man ist im Finanzsektor und lässt die Blase platzen.

Abschließende Worte

Geduld ist besonders auch bei der Gestaltung des Lebenswandels wichtig. Langfristiges Denken ist hier genauso gefragt, wie beim herkömmlichen Krafttraining.

Eine Veränderung ist nur dann relevant, wenn du dir sicher bist, dass du sie auch den Rest deines Lebens umsetzen kannst. Ansonsten werden die Veränderungen keinen Bestand haben. Wenn du an langfristigen, dauerhaften Veränderungen interessiert bist, solltest du dich fragen:

Will ich das den Rest meines Lebens machen?

Fragen

  • Was willst du den Rest deines Lebens machen? Was zeichnet es aus?
  • Was willst du nicht den Rest deines Lebens machen? Was kannst du verändern, um es doch zu wollen oder zu können?
  • Wenn du es eigentlich nicht den Rest deines Lebens willst, warum willst du es jetzt und was wird sich später ändern, sodass du es dann nicht mehr willst?

Bilderrechte

(CC BY 2.0) Neil Crump


  1. Das gilt besonders dann, wenn meine Regeneration tatsächlich anfängt altersbedingt schlechter zu werden. 

  2. An dieser Stelle überziehe ich etwas. Spontanität ist nicht immer eigentlicher Wankelmut. Ich belasse bei dieser Fußnote, um den Text nicht verwässern.