Die Kalorienbilanz, Teil I - Muskelaufbau und Fettabbau
Zusammenfassung: Die Kalorienbilanz wird als das einzig relevante Kriterium beim Abnehmen hingestellt. Diese Vorstellung hat seine Tücken. Körperfett wird ebenso wie die Muskulatur über komplexe Mechanismen reguliert. Nur mit der Kalorienbilanz zu arbeiten ist eine unzulässige Vereinfachung gegenüber der Komplexität des Körpers.
Muskelaufbau und Fettabbau: Die beiden Klassiker der Ernährung. Obwohl es noch viele andere Faktoren einer robusten Gesundheit gibt, erhalten diese beiden Themen zweifellos den Löwenanteil unserer Aufmerksamkeit. Ob der Großteil vielleicht eher am guten Aussehen interessiert ist, lasse ich an dieser Stelle offen. Beim Abnehmen ist die Kalorienbilanz das Ungetüm, dass sich bei allen Überlegungen aufdrängt. Doch wie nützlich ist sie eigentlich?
Was ist die Kalorienbilanz?
Die Kalorienbilanz ist das Verhältnis von Energieaufnahme und -abgabe. Die Energieaufnahme ist das Essen und Trinken, während die Energieabgabe der Verbrauch ist.
Wer abnehmen will, muss mehr Kalorien verbrennen als man durch Essen und Trinken zu sich nimmt. Man spricht hier von der “Kalorienbilanz“. Quelle
Soweit wird dieser Klassiker1 der Ernährung wie ein Mantra wiederholt. Viele gehen sogar noch weiter und sagen, dass die negative Kalorienbilanz das einzig relevante Kriterium ist, wenn es um das Abnehmen geht.
Der Widerspruch: Muskelaufbau und Fettabbau
Fett und Muskeln sind zwei Gewebetypen im Körper. Beide Gewebetypen sind durch komplexe Stoffwechselpfade reguliert. Das geschieht über Hormone, Enzyme und dergleichen. So weit, so selbstverständlich.
Das folgende Mantra hat wahrscheinlich schon jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, gehört:
Das einzig Entscheidende beim Abnehmen ist die negative Kalorienbilanz!
Doch hast du schonmal gehört, dass jemand das hier gesagt hat?
Das einzig Entscheidende beim Muskelaufbau ist die positive Kalorienbilanz!
Auf der einen Seite scheint klar: Zum Abbau eines Gewebes (Fett) sei nur die Kalorienbilanz wichtig. Auf der anderen Seite scheint klar, dass zum Aufbau eines Gewebes (Muskeln) auf jeden Fall mehr dazu gehört.
Das passt überhaupt nicht zusammen. Meine persönliche These ist, dass dieser Widerspruch aus der Art entstanden ist, warum und wie über beide Phänomene gesprochen wird.
- Die Forschung zum Thema Abnehmen ist durch die Übergewichtsepidemie der ersten Welt motiviert. Es geht meist nur um ein generelles Weniger und viele wollen einfach nur eine kleinere Zahl auf der Waage sehen. So messen viele Forscher nur das Gewicht und sprechen von weight reduction (Gewichtsreduktion), nicht von fat loss (Fettverlust). Kalorien sind eine einfache Möglichkeit Nahrung messbar zu machen. Forscher hassen komplizierte Analysen. Einfach alles, was in den Mund gesteckt wird, zu verbuchen und die Probanden lediglich auf die Waage zu stellen sind einfache Lösungen. Den Fettverlust zu messen oder die Makronährstoffe auseinander zu halten ist da weitaus schwieriger.2
- Die Forschung, die sich mit dem Muskelaufbau beschäftigt, schließt die Praxis im Sport an. Dass man etwas mehr machen muss als nur viel zu essen, wird schon längst vorausgesetzt. Muskeln bedeuten Kraft. Deswegen wird eher darüber geforscht, welche Methoden des Krafttrainings nun zum optimalen Muskelaufbau führen. Entweder geht es um den maximal möglichen Muskelaufbau oder um Muskelaufbau in möglichst kurzer Zeit. Unterfüttert wird das natürlich von einer Menge Forschung darüber, wie der Körper den Muskelaufbau überhaupt reguliert. Daraus wollen die Forscher dann ableiten, welches das beste Programm für den Muskelaufbau ist.
Wir gehen hier also von zwei verschiedenen Grundhaltungen aus, wenn wir die beiden Phänomene untersuchen:
- Beim Abnehmen ist weniger erstmal gut.
- Beim Zunehmen wollen wir aber nur Muskeln aufbauen und das ist schwer.
Doch auch gerade diejenigen, denen man am meisten zutrauen würde, sich eingehend mit diesem Problem zu beschäftigen, leben genau in diesem Widerspruch. In vielen Bodybuildingforen wird genau das immer wieder wiedergekäut:3
- "Wenn du abnehmen willst, ist einzig die negative Kalorienbilanz entscheidend. Wie du die erreichst, spielt keine Rolle."
- "Wenn du Muskeln aufbauen willst: Viel essen UND viel trainieren. Kommt Kraft kommt Masse." (Manchmal kommt noch ein Ratschlag, welche Trainingsmethode nun die Beste sei)
Wenn es um den Auf- und Abbau von Körpergewebe gibt, kann es kein entweder oder geben. Entweder ist nur die Kalorienbilanz entscheidend oder es sind eine Reihe von Regulationsmechanismen verantwortlich.
Wenn es nur auf die Kalorienbilanz ankäme, sollte das Kaloriendefizit den Fettverlust eindeutig bestimmen. Das ist selbstverständlich nicht der Fall.
Sehen wir uns dazu folgende Studie an:
In der Studie von Young et al. konnte man am Kohlenhydratanteil der Ernährung ablesen, wie viel vom Gewichtsverlust tatsächlich auch Körperfett war.4 Je niedriger der Kohlenhydratanteil der Ernährung desto höher war der Anteil des Körperfetts am Gewichtsverlust.
Irgendetwas an den Kohlenhydraten schien die Fähigkeit der Probanden eingeschränkt zu haben das Körperfett für die Energiegewinnung zu mobilisieren.
Volek et al.5 stellten fest, dass eine fettreiche Diät gegenüber einer kohlenhydratreichen Kost zu mehr Fettverlust führt, obwohl in ihrem Experiment die Fettgruppe mehr Kalorien zu sich genommen hat als die Kohlenhydratgruppe (1855 kcal vs. 1562 kcal; das Energidefzit war das gleiche). Die kohlenhydratreduzierte Gruppe konnte ihren Ruhemetabolismus (Energieverbrauch pro kg/Körpergewicht) halten, während er in der Kohlenhydratgruppe sank.6
Die Ergebnisse beider Studien zeigen, dass die Kalorienbilanz eine zu starke Vereinfachung ist. Der Körper ist komplex. So scheitert die Kalorienbilanz in ihrer einfachen Anwendung als Mittel den Fettabbau zu beschreiben und vorherzusagen.
Zusammenfassung
Die Kalorienbilanz hat als Modell seine Lücken. Während man beim Fett immer nur auf die Kalorienbilanz schielt, werden beim Muskelaufbau andere Regeln angelegt. Beide Gewebetypen unterliegen aber komplexen Regulierungen des Auf- und Abbaus. Hier nur die Kalorienbilanz als Kriterium anzulegen ist völlig unangemessen. Beim Muskelaufbau scheint das allen bewusst zu sein, doch beim Körperfett wird das getrost ausgeblendet. Doch auch beim Abnehmen kommt es auf mehr an als nur weniger zu essen.
Ausblick
Das ist der Auftakt einer kleinen Reihe über die Kalorienbilanz. Ich hatte zunächst nur einen Beitrag darüber geplant. Allerdings ist dieser ziemlich schnell gewachsen. Hier eine kleine Liste möglicher Themen, die euch erwarten werden:7
- Wie die Kalorienbilanz den Unterschied zwischen Gewicht verlieren und Körperfett abbauen aufhebt.
- Was die Kalorienbilanz mit dem Geldwert von Geld zu tun hat.
- Praktische Probleme der Kalorienbilanz I - Ein 5000kcal Experiment
- Praktische Probleme der Kalorienbilanz II - John Berardis Fallbeispiele
- Die Kalorienbilanz und das Zeitproblem
Danach (vielleicht nach noch ein paar Beiträgen über das intermittierende Fasten) stelle ich mindestens ein alternatives Modell zur Kalorienbilanz vor. Die Handlungsanweisungen, die sich aus diesen Modellen ergeben, sind dann auch viel anschlussfähiger an Improved Eating. Kalorien zählen ist das nicht.
Weiter zu Teil II: Körperfett und Körpergewicht
Fragen
- Wem ist die Kalorienbilanz nicht ganz koscher und wer vertritt die These, dass es nur auf sie ankommt? Wie begründest du das?
- Konntest du die Kalorienbilanz erfolgreich verwenden oder gab es Probleme?
Fotos
Photo Credit: dichohecho via Compfight cc
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Das scheint so weit akzeptiert zu sein, dass gerade mal 70 Leute pro Monat danach suchen. ↩
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Forscher sind nicht dumm. Es gibt selbstverständlich viele Forscher, die auf dieser Unterscheidung bestehen. Schließlich gibt es mittlerweile die Debatten um den Kohlenhydratanteil in der Nahrung und Streits über die optimale Ernährung zum Abnehmen. Viele sehen einen hohen Proteinanteil in der Nahrung als förderlich. Doch eine Jahrzehnte lange Forschungspraxis muss da umgebrochen werden. Für die Interessierten: [Gary Taubes - Good Calories, Bad Calories][201309230907] ↩
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Sogar hier ist diese Position widersprüchlich. Wenn die negative Kalorienbilanz das einzig Entscheidende wäre, warum dann noch einen hohe Proteinzufuhr, weiterhin durchgeführtes Krafttraining und Ähnliche Maßnahmen empfehlen? ↩
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Young, C. M., Scanlan, S. S., Im, H. S., & Lutwak, L. (1971). Effect of body composition and other parameters in obese young men of carbohydrate level of reduction diet. Am J Clin Nutr, 24(3), 290-6. ↩
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Volek, J., Sharman, M., Gómez, A., Judelson, D., Rubin, M., Watson, G., Sokmen, B., Silvestre, R., French, D., & Kraemer, W. (2004). Comparison of energy-restricted very low-carbohydrate and low-fat diets on weight loss and body composition in overweight men and women. Nutr Metab (Lond), 1(1), 13. ↩
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Der metabolische Vorteil einer kohlenhydratreduzierten Kost war bei den Männern größer als bei den Frauen. Bei beiden war eine LowCarb-Diät erfolgreicher, lediglich der Erfolgsunterschied der verschiedenen Ernährungsformen war bei den Männern größer. Das heißt nicht zwangsläufig, dass Frauen weniger von einer Reduktion der Kohlenhydrate profitieren. Alternativ könnte man auch dafür argumentieren, dass Frauen es prinzipiell schwerer haben Körperfett abzubauen, so dass die Unterschiede bei ihnen zwischen verschiedenen Diätformen kleiner ausfallen. ↩
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Mich ärgert, dass ich ein ziemlich großes Problem der Kalorienbilanz nicht in Kürze erklären kann. Die Kalorienbilanz kann nämlich nicht kausale Ursache für irgendeinen Effekt sein. Das Prinzip von Kausalität in der Physik lässt das nicht zu. Allerdings würde der Beitrag viele tausend Worte lang sein oder ich müsste ein Philosophiestudium mit Schwerpunkt Wissenschaftstheorie voraussetzen. Vielleicht kriege ich das ja noch gebacken. Aber nagel mich nicht darauf fest. Dies gehört bloß zu Kür dieses Projekts, weil daraus erstmal keine Handlungsmöglichkeiten erwachsen. ↩